“Life is a bridge. Cross over it,

but build no house on it.”

Bruce Chatwin, The Songlines

BERLIN PORTO AMMAN NEAPEL LA VALLETTA

Gerald Benesch

OKT-DEZ 2021

reisen

Das Wort reisen hat in seiner althochdeutschen Herkunft die Bedeutung aufbrechen, sich aufmachen. Das englische Wort “rise” klingt nicht zufälligerweise ähnlich. Und doch hat der Begriff durch die Jahrhunderte viele Bedeutungen bekommen. Es wurde benutzt, wenn man auf Kreuzzug ging, oder, um Matrosen den Befehl zum Aufstehen, zum Hissen der Segel zu geben. Und Wikipedia erklärt mir, dass man zwischen Reisen und Tourismus unterscheiden solle. Ersteres diene der persönlichen Erfahrung, Zweiteres wird als passives Sich-Bespielen-Lassen gesehen.
Meine Spielart ist eine Mischung aus beidem: Die Erfahrungen und Bereicherungen erfahre ich durch Auf-mich-Zukommen-Lassen. Lange schon sind mir die hochkulturellen und künstlerischen Höhepunkte eines Landes sekundär, mein Erleben und Sehen findet im Alltag des besuchten Landes statt.

Amman!

Amman! Auch wenn es in diversen Lokalen „Cocktails“ gibt, so sind diese selbstverständlich ohne Alkohol, aber mit den gleich lautenden westlichen Namen bestückt. Und dann tauchen am Abend vor dem Freitag plötzlich Lichter in den sonst dunklen Geschäften in Seitengassen auf, man erkennt diese erst jetzt als Shops für meist harten Alkohol, ein paar Fruchtsaft-Tetrapack sind auf der Theke in den Vordergrund geschoben. Und was bei uns ein cooler Barkeeper ist, ist in Jordanien der Typ in einem der vielen Parfumläden. Besonders der junge Mann mit der gegelten Frisur und interessanterweise Vollvisiermaske hat Moves, Gesten und Abläufe, die mich an die coolen Jungs der Schulz-Bar in Wien der 90er erinnern. Hinter ihm eine Wand mit mindestens 100 goldenen kleinen Fläschchen, die meisten mit den Essenz-Namen versehen, der Rest mit internationaler Produktnamen und deren Fälschungen, von Tom Ford bis Dior. Diese Fläschchen werden in kunstvoller Bewegung aus dem Regal gehoben, Seite an Seite auf die Theke gestellt und dann den Wünschen des vor ihm stehenden Kunden gemäß kombiniert. Was bei uns in einem Cocktailglas endet, wird hier mit einer Pipette aufgezogen und in einem wunderschön manirierten Bewegungsablauf auf den Kunden zum Testen versprüht.
Auch immer interessant, was meine Alltage in Ausländern betrifft: Hier finde ich mir zum Beispiel jeden Tag ein Cafe oder ein Restaurant, um eine Shisha zu rauchen – etwas das ich in Wien seit Jahren anvisiere, aber nie tue. Das Beobachten des Strassengeschehens versüßt mir meist die Tabakmischung Zimt & Apfel.

2

Berlin!

Bei meinem ersten Besuch im letzten Jahrtausend war die Stadt nicht greifbar, mit der U-Bahn kompliziert zu erkunden. Bei einem Dreh vor fünf Jahren war es plötzlich mit dem Fahrrad ein Leichtes, von Kreuzberg zum Kurfürstendamm, vom KDW nach Berlin-Mitte zu gondeln. Vor 15 Monaten war ich mal zwei Tage hier, um mir im “Ritter Butzke” etc. die Ohren durchblasen zu lassen, heuer kam ich nicht dazu, lockdownbedingt – und, ich war ja wegen Mrs. G. in der Stadt. Also raus aus dem Underground zu boomenden Bio-Straßenmärkten und ins neu eröffnete Humboldtforum, das gerade – exemplarisch und berechtigt – im Zentrum der Debatten über die Rückgabe von zu Kolonialzeiten geraubten Kulturgütern steht. Soviel zum Sinn des Reisens: Muss es ein Objekt sein, ist nicht die eigene Wandlung/Spiegelung im Anderen/Fremden als Mitbringsel viel wertvoller?

Neapel!

In Antonellas AirBnB, in einem historischen Haus mit Portier und drei Eingangsschlüsseln im zweiten Stock, sind Tische und Sideboards dezent, aber gut erkenntlich mit Erinnerungen bestückt: der überlebensgroße steinerne Buddhakopf beim Eingang, die auf Gips gemalten Hieroglyphen aus dem Touristenshop in Luxor, die Mini-Akropolis aus Athen. Es wirkt wie ein Museum, und das ist es auch: der gefrorene Status Quo nach der Scheidung vor 10 Jahren. Sie selbst wohnt im Bereich des alten Schlafzimmers und dessen Vorzimmers hinter einem Vorhang, ab und zu huscht sie in die gemeinsame Küche. Die Gäste wohnen in den adaptierten, noblen, ehemaligen Kinderzimmern. Den Sohn in Paris zu besuchen, scheint ihr schon zu anstrengend. Die Stadt selbst ist eine herbstlich feuchte Mixtur aus den engen Gassen des Spanischen Viertels, den noblen Einkaufsstraßen und den vielen historischen Bauten – gut durchmischt mit Graffitis und den Restauranttipps aus dem AirBnB. Dort wird man auch gleich über die Gasse zu einem groß angelegten Geburtstagscocktail geladen – der Sommer ist hier auch im November noch nicht vorbei!

4

Porto!

Im Oktober, nach den Flugabsagen im Vorjahr, endlich ein Wiedersehen nach 20 Jahren. Und dann der direkte Vergleich zu Lissabon: Das hat sich von der armen, verwahrlosten alten Dame inzwischen zu einer allzu schicken Trendstadt entwickelt, vorbei an der Tatsache, dass man hier im Schnitt ein Drittel weniger als im europäischen Mittel verdient. Und das merkt man in Porto noch sichtbarer: Viele Geschäftsportale sind seit Jahrzehnten nicht modernisiert, kleine Weinlokale bieten gebratene Sardinen um zwei Euro pro Teller für leicht verwahrloste Alte an. Als Kontrapunkt sind historische Hafenviertel, die früher dem Beladen von Schiffen, dem Lagern von Portwein dienten, jetzt von Touristenansammlungen und den entsprechenden Lokalen vereinnahmt. Darüber thronen zwei anhöhenverbindende Brücken über dem Douro, jeweils von Gustave Eiffel und einem seiner Schüler errichtet. Im Vorfeld gebucht, gelingt es mir bei einem Surfkurs, mehrmals phänomenale fünf Sekunden auf dem Brett zu stehen. Gefeiert wird das neben dem Club in einer alten Bücherei bei mir ums Eck in einem der innovativen Bar-Restaurants mit feinst präsentierten modernen Varianten von portugiesischen Küchen- klassikern. Das weiß ich, weil es in den Beisln sonst sehr deftig zugeht mit Innereien und Bohnen und salzgetrocknetem – und dann wieder eingeweichtem – Bacalao-Kabeljau.

La Valetta!

Auch ein Wiedersehen, hier nach fast 30 Jahren. Damals war mein Radius ohne Mietauto begrenzt, die Busfahrten zeigten mir aber, wie verbaut eine Insel sein kann, wie irritierend die großen Dome und Kathedralen in jedem Kaff sind. Damals allerdings belohnt mit der Ankunft bei einem der wöchentlich wechselnden Kirchenfeste, inklusive Umzug und Blaskapelle. Anfang Dezember wurde gerade eben trotz offizieller Herdenimmunität wieder Maske im städtisch-öffentlichen Raum getragen. Also rein ins Mietauto und eine im Netz gefundene Liste abfahren: die Fantasyserie Game of Thrones wurde zum Teil hier gedreht, zehn Locations die zum Teil nicht in den touristischen to-do-Listen stehen will ich besuchen. Malta ist eine wunderbare Melange aus diversen Kulturen: Griechen, Römer, Phönizier, Punier/Araber, Franzosen und Engländer waren hier bis 1964 an der Macht – und diese Mischung ist allgegenwärtig, am meisten in der Sprache melangiert, klingend wie ein Mix aus Neapolitanisch und Arabisch. Entsprechend heißt die alte Hauptstadt M’dina, ein Koloss aus dem typischen honigfarbenen Kalkstein, die engen Gassen für Angreifer bewusst in Labyrinthform angelegt. Nächster Stopp ist der Konvent St. Dominic’s in Rabat, der tatsächlich in der Zeit seiner Gründung stehen geblieben zu sein scheint, mit von Mönchen gepflegtem Orangengärtlein in der Mitte – und gefährlich wackelndem Aufzug im Seitentrakt. Wilde Küstenlandschaften, der von mir zweimal bewundernd besuchte barocke Garten von San Anton und ein Tag auf der relaxteren Nachbarinsel Gozo lassen mich wieder versöhnt sein mit Malta – und satt vom Reisen. In diesem Jahr.

8

“The meaning of life is just to be alive. It is so plain and so obvious and so simple.

And yet, everybody rushes around in a great panic as if it were necessary to achieve something beyond themselves.”

Alan Watts