VA B E N E !

in Ge’ez, der historischen Schrift Eritreas und Äthiopiens

 

©2009 Gerald Benesch

Lektorat: Barbara Zwiefelhofer – BIG THX! Gesetzt von vaBene!schLaboratories in Dolly
Gestaltung: vaBene!sch-Laboratories,
Coverfoto: Kamelmarkt in Keren/Fiat Tagliero Gebäude in Asmara
Fotos Titel&innen, Illustrationen: GeeBee.

für ,für Muttern

ERITREA

 

FACTS & FICTION & FREAKS & FLASHBACKS

 

GERALD BENESCH

2009

Das Flugzeug*

Giuseppe Pattazzi erwachte noch schweißdurchnässter als sonst an diesem Augustmorgen im Jahr 1938. Eine kalte Dusche und eine exakte Rasur später zog er sich den anthrazitfarbenen Anzug an, den sein Mailänder Schneider gerade noch rechtzeitig geschickt hatte. Nadelstreifen, der cremefarbene Borsalino als perfekte Ergänzung, die ungarischen Maßschuhe als schwarz glänzende Abrundung.

Das wichtigste Accessoire aber lag seit Wochen frisch gereinigt, geölt und poliert im Schreibtisch seines Innenstadtbüros, seit 20 Jahren ungenützt und jetzt für einen möglichen Gebrauch bereit: seine ehemalige Offizierspistole. Der Chauffeur wartete bereits vor der Haustüre, blieb kurz auf der Viale Mussolini gegenüber der Kathedrale stehen, damit Pettazzi seinen Assistenten – und die Pistole – abholen konnte. Eine spürbare Anspannung war höchst unterschiedlich auf die drei Männer in dem Dienstwagen verteilt, am meisten schwitzte „il architecto”, mehr als die beginnende Hitze des Tages es verursachen würde.

Langsam rollte der Wagen an dem Gebäude am unteren Ende der Sematat Avenue vor, langsam stieg Pettazzi aus, wortlos nickend ging er am Bürgermeister, dessen nach der neuesten italienischen Mode gekleideten Gattin, einigen Stadträten und entspannt im Schatten stehenden Arbeitern vorbei und auf die Eingangstür zu. Er stieg die enge, metallene Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock und durch die rechte der beiden Türen hinaus auf einen der beiden „Flügel”.

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Dort stand bereits sein Vorarbeiter – bereit für seinen letzten Termin mit Giuseppe Pattazzi, den abschließenden feierlichen Eröffnungsakt. Gespannt wartete er auf das Absehbare, die
Übergabe des Gebäudes an den Auftraggeber: die Stadt Asmara. Ein zweigeschossiger, turmartiger Mittelteil, davon ausgehend die jeweils 15 Meter weit ausladenden Flügel, gestützt von massiven Holzsäulen. Diese sollten aus Gründen der statischen Vorschriften, oder richtiger: aus einfachem Menschenverstand, unter den Flügeln, die noch zu montierenden Benzinzapfsäulen flankierend, verbleiben. Giuseppe Pettazzi sah das anders, er hatte von Anfang an seine eigenen Berechnungen gemacht, die allgemeinen Grundsätze der Statik mit seinen persönlichen, jahrelangen Erfahrungen kombiniert.

Er hatte ein Quäntchen Risiko (auch in seinen eigenen Augen kein unbeträchtliches) einkalkuliert und das nun Folgende beschlossen:
Er legte dem klein gewachsenen Vorarbeiter den Arm um die Schultern,
drückte ihm die mit einem hörbaren Klick entsicherte Pistole an die Schläfe und brüllte auf die vier Meter tiefer werkenden Männer hinunter: „Los! Weg damit! Entfernt die verdammten
Stützen, mein Flugzeug soll fliegen und nicht durch elende Vorschriften behindert sein! Los, oder ich erschieße ihn!” Dutzende Augenpaare richteten sich sofort auf dieses seltsame
Schauspiel auf dem Flügel, die Arbeiter blieben regungslos, abwartend. Der Vorarbeiter konnte zuerst nur mit brechender Stimme krächzend die Worte seines rasenden Auftraggebers
in Tigrinya übersetzen, einige wenige hatten schon vorher die italienischen Befehle verstanden. Sekunden verhallten, das Krächzen ging, die Worte wiederholend, in die gewohnte
laute Stimme über.

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Der unbeirrbar strenge Blick unter Pettazzis buschigen Augenbrauen und die Pistole an der Schläfe des Vorarbeiters taten das Übrige, und ein paar Männer nahmen einige herumstehende Spitzhacken und begannen eher zaghaft die erste stützende Säule zu entfernen. Unter lautem Krachen, verstärkt durch das Echo der horizontalen Wand aus Beton, stürzte der erste massive Baumstamm um. Dann fiel der zweite, daraufhin alle weiteren, die Bauarbeiter liefen nach jedem Donnerschlag sofort wieder unter den Flügeln hervor, nach jeder Säule immer schneller die nächste fällend – mit zunehmender Angst vor dem drohenden Einsturz der riesigen Betonplatten.
Doch nichts passierte.

Nach einer halben Stunde hatte sich die geheime, ultimative Vision des Architekten erfüllt: ein Gebäude mit weit ausladenden, frei schwebenden Flügeln. Giuseppe Pettazzi schüttelte dem zitternden Mann neben sich die Hand, stieg den Turm hinunter und gönnte sich einen freien Tag. Er war froh, dass er nicht den Absturz der Flügel hatte erleben müssen – die einzige Kugel in der Pistole wäre dann für ihn selbst bestimmt gewesen. Das Fiat Tagliero-Gebäude ist heute, über 80 Jahre nach seinem Entstehen das geheime Wahrzeichen Asmaras,

*Nacherzählung, basierend auf Tatsachen.

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Good Morning

Safari Suit pt.1

Asmara, 19.1.2009

„Hi, how are you?”, sagt der Mann, den ich auf dem Weg zur Kathedrale passiere, deren zum Sonntagsdienst rufende Glocken mich aus dem Bett gelockt hatten. Die Messe wird in Italienisch sein, um halb sieben war sie auf Tigrenya, um elf Uhr wird sie dann in englischer Sprache abgehalten.

Der sauber gefegte Gehsteig führt durch das ehemals noble und jetzt etwas heruntergekommene Villenviertel rund um die italienische Botschaft südlich des Zentrums von Asmara. Der weißhaarige Mann war mir schon von hinten aufgefallen, durch seine dezente Eleganz mit dem kurzärmeligen moosgrünen Anzug, den man in Indien „Safari-Suit“ nennen würde. Dort, wie vermutlich auch hier, eine an die Hitze adaptierte Version europäischer Vorbilder. Nicht nur dadurch weltmännisch anmutend geht dieser eritreische Gentleman neben mir, die Hände lässig in den Hosentaschen, einen glänzenden Anstecker am Revers und eine zur dunklen Stimme passende Sonnenbrille.

Auf sein für mich exotisch klingendes „Hi, how arrre you?”, antworte ich – erstaunt über seine offene, direkte Anrede – im ersten Moment mit „müde”. – „Why?” – also erzähle ich ihm von meiner Ankunft gestern um fünf Uhr früh nach einer fast schlaflosen Nacht auf dem Flug von Kairo hierher und von der Tanzveranstaltung gestern Mitternacht.-„Ah, where?”- Im Versammlungssaal hinter dem ehemaligen Gefängnis mit dem Schulterwackeltanz und dem selbst gebrauten Getränk, das wie eine Mischung aus Tee und gewässertem Vermouth schmeckt, ungesüßt. – „Siwa”, vergorenes Getreide, erklärt er mir.

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Ich beschreibe auch meinen ersten, positiven Eindruck von der Freundlichkeit der Menschen, der Eleganz der Gebäude, der Freude, an diesem Ort zu sein – Nettigkeiten, die man versucht ist, an einem strahlenden Sonntagmorgen einem feinen Herrn in einem Villenviertel zu sagen. Ich merke, wie diese Worte an ihm abprallen, wie er eine tiefere Analyse seines Heimatlandes möchte, sie allerdings gleich selbst liefert. Ob mir der Tiefstand der Wirtschaft aufgefallen sei, die generelle Unzufriedenheit mit der politischen Lage. – „Ja“, in Vorbereitung der Reise hatte ich gelesen, dass sich die Preise der Grundnahrungsmittel in den letzten Jahren verdoppelt, teilweise verdreifacht hatten, dass Benzin teurer als in Europa ist, trotz der unmittelbaren Nähe saudischer Ölfelder.

Genauso ist aber auch sichtbar, wie gepflegt die Straßen sind, wie sorgfältig sich die Menschen in der Hauptstadt kleiden, wie sie nach wie vor ihren Macchiato und Espresso in den Straßencafes trinken, dabei lachend und italienische Wortstreusel in die Konversation einfügend: „La vita e bella!“ – „Pride!” – Stolz, ist seine fast abwertende Antwort, und er spricht von der Gefahr des Benennens von Missständen. Würde er dieselben Worte mit der falschen Person sprechen, wäre er morgen im Gefängnis. Aber, es gäbe kritische Tendenzen in gewissen Kreisen, die er kenne – im Internet, ein „Bewusstseinsstrom“, den die Regierung wird anerkennen müssen. Ihr Rücktritt sei nur noch eine Frage der Zeit. „Wer gibt schon freiwillig seine Macht auf ?”, frage ich ihn. Er bleibt weiterhin kryptisch, und wir wechseln das Thema, er erzählt von seinem Studium der Genetik im Großbritannien der 70er Jahre, von seinen Ausflügen von dort aus nach Deutschland, in die Schweiz und nach Österreich,

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von seinem privilegierten Leben, vom Kirchgang. Wir erreichen die Stufen am Ende der Straße, die auf die Harnet Avenue trifft. Zur Linken erhebt sich monumental breit ein Verwaltungsbau mit zwei Stockwerken, in versetzten Blöcken daran anschließend erhöhte Enden mit Balustrade. Hier, im Faschisten-Hauptquartier von Eritrea, wollte sich Benito Mussolini als Erfinder des Kolonialreiches Africa Orientale Italiana feiern lassen. An diesem Sonntagmorgen leuchtet der einst kräftige Rotton in einem warmen Terracotta, das Gebäude ist inzwischen das Ministry of Education of Eritrea.

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Das Gespräch

Safari Suit pt.1

Asmara, 2.2.2009 Das Gehäuse einer Telefonzelle hinter der Kathedrale verdeckt den Kopf des zu dünnen, groß gewachsenen jungen Mannes, sein Körper steckt in einem zerrissenen, sandfarbenen Overall, das linke Knie ist im rechten Winkel angehoben.

Er schreit, ja singt einen Wortstrom in die Kuppel aus Blech. Den Telefonhörer schlägt er dazu rhythmisch auf sein erhobenes Knie.

Der Lavastrom

Asmara, 19.1.2009

Die Nacht beginnt kühl zu werden, aus einzelnen Bars plärrt lokaler Beat, das Mocambo wirkt eher verlassen als bereit, ab Mitternacht ein schwitzender Ballroom zu werden. Auf dem Weg zur Pensione Afrika – die modernistisch gebaute Villa eine Spaghettiindustriellen, so der Reiseführer – passiere ich das ehemalige Gefängnis.

Christoph, der deutsche Ausstellungsmacher von „Asmara, Afrikas heimliche Hauptstadt der Moderne”, erzählt von einem deutschen Investor, der es abreißen und einen mehrgeschossigen Neubau hinstellen wollte. Das wurde aber verhindert durch ehemalige Häftlinge, die es als Mahnmal für die vielen politischen „Verbrecher”, also Regimekritiker, erhalten wollten. Gleich daneben steht ein Kolonialzweckbau, eine Versammlungshalle. Laute Musik dringt durch die offenen Türen auf die Straße. Beim Eintreten sehe ich ums Eck einen mit Papiergirlanden dekorierten Tanzsaal mit einfachen Tischen und Stühlen an den Rändern.

Auf der ansonsten nackten Bühne in einer Nische spielt ein junger Mann auf seinem modernen Keyboard im Stehen Melodielinien und Akkorde zu vorprogrammierten Tempi, daneben schlägt ein grauhaariger kleiner Mann um einiges enthusiastischer die Saiten einer elektrisch verstärkten K’rar-Harfe und singt dazu. Beim Eingang lächle ich in Richtung eines der wenigen nicht Tanzenden, er bietet mir den Platz neben sich an, ein anderer holt mir vom gegenüber liegenden Tisch einen Pappbecher mit Siwa, dem zu Hause gebrauten Leichtbier.

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Propagandaposter
für die Kolonialländer Italiens in Afrika, 1930er Jahre
©Asmara, Afrikas Hauptstadt der Moderne, Jovis-Verlag

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Am Rand sitzend, beginne ich, mich auf diese besondere Musik einzustimmen, eine sich stark wiederholende Mischung, die dem Land Eritrea entspricht: arabisch-afrikanische Melodik und Rhythmik – gemischt mit einem Hauch funky Jazz und Pop. Und dann öffnet sich plötzlich ein Tor in diesem wallenden “Objekt”, das die gesamte Breite des Saales ausfüllt. Aus dieser Öffnung ragt eine zarte schwarze Hand, der Unterarm bedeckt mit einem ebenfalls schwarzen Kleiderärmel.

Die Hand gehört zu einem weiß-rotschwarzen Lächeln, das dahinter kurz aufblitzt. Ich lasse mich mitziehen und bin sofort Teil dieser lebendigen Masse tanzender Leiber, dieses gegen den Uhrzeigersinn langsam rotierenden Lavastromes. Stefanie, Regisseurin eines ARTE-Films über die Architektur in Asmara, hatte ein paar Stunden vorher, beim historischen Postamt stehend, kryptisch gemeint: „Ich bin ja eher eine Hüfttänzerin, die machen aber alles mit den Schultern!” Jetzt verstand ich, was Stefanie meinte: jeder bewegt sich in einem individuellen Stil, allen gemeinsam ist ein leichtes Heben und Senken der Oberkörper, ein häufiges Schulterzucken, manchmal ein-, meist beidseitig. Dies abwechselnd als Paar, oft auch in Gruppen von vier bis sechs Männern und Frauen, ab und zu einen einzeln Tanzenden umringend. Auch hier ist allen eines gemeinsam: alle strahlen, alle haben ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht, ein kollektives Leuchten von 80 Menschen, ein Lavastrom der Freude erfüllt den Saal.

Einzelne Tänze wie dieser eben dauern bis zu 15 Minuten, beim nächsten Tanz holt mich ein älterer Herr auf die Tanzfläche, lehrt mich ein paar seiner persönlichen Bewegungen und kopiert einige meiner freien Interpretationen des Tanzstils – meine Spiegelneuronen der Sympathie leuchten auf ! Beim dritten Tanz bin ich gleich zu Beginn dabei, es ist auch der letzte des Abends. Einige Verbeugungen vor meiner Tanzpartnerin, auf Wunsch meine Emailadresse für den netten Herrn hinterlassend schwebe hinaus in die mich umgebende kühle Nacht, zur Pensione Afrika.

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Blut und Scholle *

Asmara, 20.1.2009

Im Herbst 1938 stand Carlo Minghetti vor einem Plakat und beschloss auszuwandern. Sein jahrelanger Arbeitgeber, eine Gärtnerei in den grünen Hügeln vor Modena hatte schon einige Arbeiter entlassen müssen, sicher wurde auch er bald keine Arbeit mehr haben – und auch keine neue finden. “Ritorneremo” stand da in fetten Lettern, illustriert mit einem fröhlichen, schaufelbewehrten jungen paesano, vor dem Hintergrund der weiblich-runden Landkarte Afrikas.

Ricardo wusste aus den Tageszeitungen vom aktuellen Lieblingsprojekt des Duce, nämlich Italien seine Herrschaft über weite Bereiche der Mittelmeerländer und darüber hinaus zurückzugeben, wie zu den Zeiten des römischen Imperiums. In den kommenden Jahren würde Benito Mussolini beträchtliche Anteile des Staatshaushaltes in die Errichtung eines Kolonialreiches rund um Abessinien, das heutige Äthiopien stecken.

Alleine in dem Eritrea genannten Landstrich 500 km nordöstlich von Addis Abeba würden im Jahr 1941, dem Jahr der Eroberung durch die Briten 70.000 Italiener leben, davon mehr als 50.000 in der Hauptstadt Asmara. Verwaltungsgebäude, Schulen, Villen – aber auch Seifen-, Spaghetti- und Silikonfabriken und Obstplantagen würden entstehen, die prägendsten Architekten ihrer Zeit würden von Rom aus wagemutige Pläne schicken, der Futurismo einen zweiten, funktionelleren Frühling erleben. Ricardo wusste, wie man Obstbäume veredelt, Rabatte anlegt, Rosen für vermehrte Blütenpracht beschneidet.

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Diese Fähigkeiten waren jetzt gefragt in einer zweiten “Neuen Welt” – in Afrika! Gyusi ist eine der sechs Töchter und zweier Söhne, entsprungen aus der Liebe des Soldaten Angelo Guarini zum eritreischen Dienstmädchen Brhti Kuflu. Er war in den späten 1930er Jahren zur Kolonisation eingezogen worden und diente später als Lehrer in seiner neuen Heimat.

Jährlich kommt Gyusi für einige Wochen aus Italien um ihrer Mutter beim Führen der “Pensione Bristol” zu helfen, einem der typischen modernistischen Kolonialbauten: Farbige Glasfenster, Terrazzoböden mit eingelegtem Muschelperlmutt, ein elegantes Stiegenhaus. Ich treffe sie auf dem T’imk’et-Fest als sie um Mitternacht die während der Jahre in Italien vernachläßigte Hälfte ihrer Herkunft mit einer Videokamera festhält.

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*Nacherzählung, grazie a Giusy,
la sorella e la Mamma und
Christoph für das Plakat!

Der Bettler

Asmara, 6.2.2009

„Please assist me, I am a psychiatric patient, I have no money!” Ein Mann, groß, schlank, zerknitterter grauer, fein karierter Anzug, offenes Lächeln, gelbe Zähne. Die Anstalt für Geisteskranke in Asmara wurde vor einigen Jahren geschlossen, die Patienten wurden teilweise ins Ungewisse entlassen.

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Das Gebet

Asmara, 1.2.2009

„You like Yoghurt?” Nachdem ich schon zum dritten Mal an ebenso vielen Tagen ein Glas mit cremigem Yoghurt – natürlich eritreisch mit viel Zucker vermischt – löffle, hat die Kellnerin einen Vorwand, um lächelnd mit mir ins Gespräch zu kommen. Das kleine Restaurant am Giro Fiori im Zentrum von Keren war mir als Ort der Erfüllung meiner Pasta-Gelüste genannt worden. Von den Maccaroni Pomodoro hätte ich bei diesem ersten Besuch am liebsten gleich die Hälfte der viel zu dünnen, viel zu schüchternen Kellnerin gegeben. Wir smalltalken über meine Liebe zum hiesigen Yoghurt und erörterten ein, zwei Fragen über diesen Ort. Sie spricht ein sehr gutes Englisch, kann mir aber über Tsada Amba, ein Kloster in den umgebenden Bergen, nichts Genaueres sagen. Was sie bedauert, war sie doch im örtlichen Büro des Ministry of Tourism in Ausbildung.

Als es geschlossen wurde, hatte sie ihren „Degree in Tourism” noch nicht bekommen. Das Beenden der Schulung in Asmara war nicht finanzierbar, also ist sie seither Kellnerin im Fickri&Saleem-Restaurant. Was sie als angehende Tourismusfachfrau denn hier zum Besuch empfehlen könne? „Britisch War Cemetery!”, „Italian War Cemetery!”. Schon gesehen, nicht gerade die üblichen Tourismusdestinationen. Ob sie nicht Maryam Dearit kenne? „I go there with my mother, every sunday, to pray”. Als ich lächelnd darauf frage, ob sie dort um einen Ehemann bitte – der alte Baobabbaum an diesem Ort soll Wunderkräfte besitzen, die derartige Wünsche erfüllen – glaube ich, unter ihrer dunklen Haut ein Erröten zu erkennen.

Sie wechselt schnell das Thema (die Qualität des eritreischen Yoghurts im Vergleich zum europäischen) und als sie mir heute dieses wunderbare Dessert bringt, sagt sie leise: „Es stimmt, ich bete um einen Ehemann, einen ausländischen, der mich wegbringt von hier.”

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Die Stampede / T’imk’et

Asmara, 19.1.2009

Sie hatten sich noch vor zwei Stunden spielerisch Kämpfe mit der Polizei geliefert um die Vorherrschaft am Brunnen im Zentrum des Versammlungsplatzes Bahti Meskerem. Immer wieder versuchten sie, mit über den eigenen oder den Köpfen von Pilgern entleerten Wasserflaschen zum Wiederbefüllen an den Brunnen zu gelangen, dessen Mitte, auf einem Felsen stehend, eine moderne Plastik bildet.

Sie stellt eine biblische Taufe dar – den heutigen T’imk’et-Tag perfekt illustrierend. Seit sieben Uhr morgens feiern hier die Bezirkspriester von Asmara einen Gottesdienst, eine ausladende Zeremonie. Am Vorabend hatten sie sich gemeinsam mit ungefähr 3.000 weiß Gekleideten hier zum Gebet eingefunden und in einem großen Zelt gemeinsam mit 200 Gläubigen, vor allem Frauen, die Nacht betend verbracht. Um Mitternacht war ich Zeuge, als sie polyrhythmisch singend, sich in Trance versetzten, die Priester tanzend die Plätze tauschten, einander in zwei Gruppen gegenüberstehend.

Als dann vormittags um zehn Uhr der Gottesdienst vorbei war, kam der Moment, auf den die meisten der jetzt 3.000 Betenden gewartet hatten: Die Priester spritzten zur Auffrischung der Taufe Wasser aus dem Brunnen über die Menge – an diesem 19. Jänner, entsprechend dem 6. Jänner im europäischen gregorianischen Kalender. An diesem Tag fand nämlich die Anbetung Christi durch die so genannten Heiligen drei Könige statt, für die christliche Kirche die offizielle Anerkennung Jesu als Gottes Sohn.

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Ob es drei oder gar mehr waren und wo sie herkamen und welche Hautfarbe sie hatten, darüber variieren die diversen Quellen. Die orthodoxen Christen in Eritrea, Angehörige der die weit versprengten Kirchen und Klöster zusammenfassenden Tewahido-Kirche benennen sogar sechs Besucher mit den Namen Tanisuram, Mika, Sisisba und Awnison, Libtar und Kasäd.

Genauso kryptisch ist der Abschluss des Gottesdienstes auf dieser großen Wiese am östlichen Ende der Harnet Avenue, in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen nach einer Nacht nahe dem Gefrierpunkt. Acht Träger präsentieren jeweils eine Kopie der alttestamentarischen Bundeslade auf ihrem Kopf, das Original war dereinst vom Gefolge Meneliks, des Sohnes von Salomon und der Königin von Saba gestohlen und durch eine Replik ersetzt worden. Vorher hatte Moses sie nach exakten göttlichen Anweisungen als Behältnis für die Zehn Gebote gebaut und auf den diversen nomadischen Bewegungen seines Stammes transportiert.

Diese Kopien der Bundeslade werden in golddurchwirkten Tüchern präsentiert, während das angebliche Original im äthiopischen Axium Tag und Nacht bewacht wird. Die darauf folgenden Wasserspiele der Burschen mit Schilfrohrruten schwingenden Polizisten verließ ich, um einen Kilometer weiter in der Bar Royal am anderen Ende der Harnet Avenue meinen ersten Macchiato des Tages zu trinken und mich unterwegs an der Sonne aufzuwärmen.

Da waren sie plötzlich, wie eine Herde Mustangs kamen mindestens 50 Jungen mitten auf der vierspurigen Straße heraufgelaufen, immer noch nass und immer noch frei – bevor die Realität sie einholen würde.

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Ein bißchen Geschichte

Asmara, 4.2.2009

Schon die ägyptischen Pharaonen hatten im dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung Interesse an diesem Landstrich, denn in seinem weiteren Umfeld war vieles zu holen. Von Gold bis Myrrhe über Sklaven und Straußenfedern bis zu Antilopen und Elfenbein. Wichtig war und blieb die Möglichkeit, über das Rote Meer verschiffen zu können – von Indien bis fast zum Mittelmeer. Dieses geheimnisvolle Land Punt ging über in die Hände des Königreiches von Axium, einer äthiopischen Stadt, gerade mal 200 Kilometer von der Küste entfernt. Als dort der Legende nach syrische Händler aus Indien kommend strandeten, brachten sie auch das Christentum mit, das im vierten Jahrhundert bereits Staatsreligion war.

Drei Jahrhunderte später wurde der damals noch junge Islam präsenter, und bald übernahmen arabische Mächte das Land und die See, am Schluss vorrangig die Türken, vor allem den Hafen von Massawa.

Als sich Ägypten mit dem äthiopischen König Yohannes im späten 19. Jahrhundert um die Region stritt, wurde Italien zum lachenden Dritten. Bis 1939 hatten die Italiener Eritrea zu einem der höchst industrialisierten Länder Afrikas und Massawa zum größten Hafen Ostafrikas gemacht. Im Zweiten Weltkrieg wurden in Europa die Italiener von den Briten aufgerieben. Die Folgen davon reichten bis in die Kolonien, von Ägypten und dem Sudan aus griff Großbritannien Eritrea an, die Italiener verloren 1941 ihre Anspruche und die Briten nach 1945 ihr Interesse. Eine internationale Kommission sollte 1948 das Schicksal, Großbritannien, die USA, Frankreich und Russland hatten unterschiedliche Vorstellungen, was mit den uneinigen Christen, Moslems und verbliebenen Italienern geschehen sollte.

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In der UNO-Resolution 390A(V) wurde beschlossen, 1950 Eritea zur 14. Provinz Äthiopiens zu machen, womit es von der Landkarte verschwand. Man sagt, die treibende Kraft dabei waren die USA, weil sie in Asmara, auf 2.400 Metern Seehöhe ein Abhörzentrum für den afro-arabischen Raum planten und dieses lieber auf dem Regierungsgebiet der amerikafreundlichen Äthiopier sahen. Die Staatssprache wechselte von Tigrinya zu Amhari, die Industrie wurde abgezogen, das Land verfiel. Die UNO blieb taub gegenüber den Appellen der Eritreaner, also griffen diese mittels der Eritrea People’s Liberation Front (EPLF) zur militärischen Selbsthilfe. 1978 schien ein finaler Verlust der eritreischen Heimat bedrohlich nah, als sich Äthiopiens Diktator Mengistu Haile Mariam vom kommunistischen russischen Bruder schwer und modern bewaffnen ließ. Nach acht Offensiven musste sich die EPLF zurück ziehen, gab aber nicht auf.

Von 1988 bis 1990 konnte sie in den härtesten Kämpfen dieses langen Krieges die eritreischen Provinzhauptstädte Afabet, Keren und Massawa zurückgewinnen. Mengistu wurde von den eigenen Reihen gestürzt, Äthiopien hatte somit plötzlich andere Präferenzen und die EPLF nahm Asmara ein ohne eine einzige Kugel abzufeuern. In einem 1992 abgehaltenen Referendum wollten 99,8 Prozent der Eritreaner ihr Land zurück auf die Landkarte!

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Die EPLF benannte sich in die People’s Front for Democracy and Justice um, geführt vom ehemaligen Guerillakommandanten Isaias Afewerki. Erste Schritte der Erholung und des Wiederaufbaus wurden 1998 gestoppt, als Äthiopien wieder den Kriegszustand ausrief – dieser Status hält bis heute an und paralysiert das Land. Der inzwischen paranoid-despotische Staatspräsident treibt sein Land vermehrt in die Isolation, verhindert Sprach- und Pressefreiheit und verschreckt Investoren.

Eine Million eritreische Exilanten sind die einzige fixe Einnahmequelle des Landes. Zu allem Überfluss wurde es in den letzten Jahren mehrmals von Dürren heimgesucht, Grundnahrungsmittel verteuern sich rasant oder werden rationiert.

Als im ersten Jahrhundert Periplus, ein ägyptisch-griechischer Schiffskapitän und Händler die vor der Küste im Wasser leuchtend rot sporenden Algen sah, nannte er diesen Bereich und das dahinter liegende Land in seinem Schiffshandbuch „erythrea”, rot. Dass damit auch viel Blut verbunden sein würde, konnte er nicht wissen …

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Auserwählte

Asmara, 18.1.2009

An der Harnet Avenue, der Strasse auf der sich „il Duce” für die Wiedererrichtung des römischen Kolonialreiches – so wie er es verstand – feiern ließ, steht als weithin sichtbarer Wegweiser die Kathedrale von Asmara. Ein perfektes Beispiel lombardischen Kirchenbaukunst, mehr als 2.000 Kilometer fern der Heimat. Heute, an diesem Sonntag zwei Tage vor dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Hussein Obama, verkündet darin der dunkelhäutige eritreische Pfarrer in der englischen Messe um 11 Uhr:

„Now, let us pray! We, the people whom the Lord has chosen!”

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Safari Suit

Safari Suit pt.2

Massawa, 23.1.2009

Ein 15 Jahre altes Bild mit diversen Parallelen taucht auf, ein unwiederbringliches Fashion-Statement, erlebt in den Straßen von Segou, in Mali. Wir waren erst vor Stunden in diesem ehemaligen französisch-kolonialen Verwaltungszentrum angekommen und machten einen abendlichen Spaziergang um das einst beste Hotel vor Ort, ein hellblaues modernistisches Baujuwel, das seine besten Jahrzehnte bereits hinter sich hatte, ein leerer Springbrunnen als zerbröckelnde Krone des alten Glanzes im Hof. In einer staubigen Seitengasse forderte uns eine rundliche Dame im bunten lokalen Gewand auf, ihr zu folgen. In einem lehmgemauerten Hinterhof brannte ein Feuer, darum herum saßen auf klapprigen Holzstühlen ca. 20 Hochzeitsgäste, einige tanzten zum Beat zweier Trommler, mitten darin das strahlende Brautpaar, bereits kniehoch von Staub bedeckt, tanzend, grüßend.

Und dann war da plötzlich dieser junge Mann mit dieser besonderen blauschwarzen Haut in einem „Safari-Suit“ in Dunkelgrau, dem Rhythmus in langsamen, kreisenden Bewegungen folgend. Das Feuer reflektierte sich in seiner schwarzen übergroßen Sonnenbrille, die Flasche Bier in seiner Hand wurde plötzlich zum Martiniglas, der rote Erdboden zum Laufsteg durch sein unglaubliches Ensemble: unter dem kurzarmigen, dünnen Jackett trug er einen fast weißen, sehr grobmaschigen langärmeligen Rollkragenpullover mit einer Eleganz und Selbstverständlichkeit, welche nicht die beginnende Kühle der Nacht, nicht die Mosquitos als Begründung erlaubten.

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Stiletto Heels

Massawa, 23.1.2009

Erst wusste ich gar nicht, was es war, das mich aus meinem Notizbuch aufblicken ließ. Dieser mit arabischen Spitzbögen umrundete kleine Platz in der weißgetünchten Altstadt auf Massawa Island war an diesem späten Nachmittag eigentlich leer, gerade vorhin waren noch zwei Verrückte vorbeiflaniert, einander ignorierend. Der Platz war sauber gekehrt, und die Reste der Tageshitze quollen nun aus den Poren der alten Korallensteinhäuser.

 

Zwanzig Meter von mir entfernt ging sie, eine der örtlichen, islamischen Mehrheit entsprechend gekleidete, komplett – bis auf den nötigen Sehschlitz – verschleierte Frau. Nein, sie ging nicht, sie stolzierte wie auf einem unsichtbaren Catwalk. Erkennbar war ihr Umhang so weit angehoben, dass man ihre Fesseln in den filigranen Highheels sehen konnte. Eigentlich waren es Stiletto Heels, also nach einer Waffe benannte Bleistiftabsätze, mit zarten Riemchen an den Fesseln festgehalten. Ebenso wie diese Schuhe exquisit waren, wusste diese Frau im fast ihren ganzen Körper bedeckenden schwarzen Kaftan genau, wie man sie zu tragen, wie man darin zu gehen hatte.

Diese Erscheinung schwebte an mir vorüber bis zum unteren Ende des leeren Platzes. Zeitgleich mit ihrem Verschwinden in einer Seitengasse erklang der Ruf des Muezzins.

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Pay me!

Massawa, 21.1.2009

„You will have to pay me!“

„Why? What?“

„For using my light!“, sagt lachend der Besitzer des kleinen Gemischtwarenladens im vom Kriegsgeschehen immer noch desolaten nördlichen Teil von Massawa Island. Ich stehe unter der Neonröhre in seinem Lokaleingang und suche etwas im Stadtplan.

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PAUL VERLAINE

J’ai avalé une fameuse gorgée de poison. – Trois fois béni soit le conseil qui m’est arrivé! – Les entrailles me brûlent. La violence du venin tord mes membres, me rend difforme, me terrasse. Je meurs de soif, j’étouffe, je ne puis crier. C’est l’enfer, l’éternelle peine! Voyez comme le feu se relève! Je brûle comme il faut. Va, démon! (Nuit de l’enfer)

Ich habe eine gehörige Portion Gift geschluckt. – Dreimal gesegnet sei der Rat, der mir wurde! – Mir brennen die Eingeweide. Die Heftigkeit des bösen Saftes verdreht mir die Glieder, entstellt mich, wirft mich zu Boden. Ich verdurste, ich ersticke, ich kann nicht schreien. Das ist die Hölle, die ewige Qual! Seht, wie das Feuer auflebt! Ich könnte nicht besser brennen. Fort, Dämon! (Nacht der Hölle)

ARTHUR RIMBAUD

In der Hölle

Asmara, 20.1.2009

Als Arthur Rimbaud im Herbst 1891 mit dem Schiff nach Marseille kam, war die Geschwulst in seinem Knie schon so weit fortgeschritten, dass ihm nur noch zwei schmerzhafte Monate blieben. Nach Jahren extremer Wanderschaften in Europa, nach Aufenthalten in Abessinien und Djibouti war er unglücklich und früh gealtert, trotz seiner erst 37 Jahre leer, ausgemergelt. Wie langweilig und langatmig war sein Leben geworden, da konnten der Staatsdienst im Ausland, seine Berufungen als Waffenschieber, Gewürzhändler oder Elfenbeinexporteur nicht hinwegtrösten. Wehmütig erinnerte er sich ab und zu an seine Jugend in der Pariser Bohème, wo er dem Poeten Paul Verlaine den Kopf so sehr verdrehte, dass dieser seine Frau für ihn verließ und sie sich gemeinsam dem besondere Poesie produzierenden Genuss von Haschisch, Absinth und Opium hingaben.

Eine Zeit, in der sein bedeutendstes Werk, die Gedichtsammlung „Une saison en enfer” („Eine Zeit in der Hölle“) entstand. Bald danach war ihre Liebe dem Wahnsinn nahe und Paul Verlaine fand Zuflucht im konservativen Katholizismus. Rimbaud hörte nach den „Illuminations” mit 21 Jahren auf zu schreiben. Er war fortan zur ewigen Suche nach dem Verlorenen verdammt, einer seiner Gewaltmärsche führte ihn von Äthiopien über Eritrea bis nach Somalia.

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Safari Suit

Safari Suit pt.3

Keren, 30.1.2009

Er war mir im Wartebereich für den Flug nach Jaipur im Domestic Airport von New Delhi sofort aufgefallen: Groß, schlank, exakter Scheitel im ergrauenden Haar – die indische Version von Clark Gable. Als wir im halbleeren Flugzeug in derselben Reihe sitzen, kommen wir ins Gespräch. Er sei in Delhi geschäftlich gewesen, weil er seit der Pensionierung – er war in der Bezirksverwaltung tätig – etwas betreibe, das er als seine eigentliche Berufung sehe. Man hätte ihm nach einem Autounfall beinahe ein Bein amputiert und dadurch seien ihm in der Krankenstation die Menschen aufgefallen, die plötzlich mit dem Verlust eines Beines konfrontiert waren und mit den Problemen bei der Beschaffung einer passenden und kostspieligen Prothese. Ebenso plötzlich sah er die Straßen voll mit Krüppeln, die sich auf armseligen Ersatzteilen bewegten oder gar keine Alternative zum Schleppen des geschundenen Körpers durch die staubigen Straßen hatten als improvisierte Krücken – oft nur einfache Stöcke!

Eine Realität, der er zum Glück entkommen war, auch sein finanzieller Reichtum als privilegierter Beamter hätte für eine in den USA produzierte, professionelle Prothese nicht ausgereicht. Von diesen Einsichten angetrieben, kontaktierte er Ärzte und Kunststofftechniker, investierte in Forschung und hatte nach einem Jahr Lösungen, die nach einem einheitlichen Schema sowohl für Unterschenkelamputierte und – mittels Kniegelenk – auch für den Verlust des Beines ab dem Oberschenkel Ersatz boten.

Ich besuchte ihn in den nächsten Tagen in seiner Ambulanz und erlebte seinen Alltag hautnah: Beinlose Menschen aus allen Teilen Indiens entstiegen, oft auch auf allen Vieren, den Zügen und bekamen vom inzwischen darin versierten Bahnhofspersonal die Beschreibung des Weges zu dem Ort, der ihre Pein lindern sollte.

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Jaipur Foot stellt anhand von Abgüssen und abgenommenen Maßen innerhalb von zwei Tagen eine funktionelle Prothese her. Aus gegossenem Kunststoff und mit gepolstertem Ansatz für den Stumpf, zum Materialwert von 20 Dollar. Natürlich nicht zu vergleichen mit einem Top-Produkt um den tausendfachen Preis, aber funktionell und sicher die vor Ort bestmögliche Alternative zu einem Leben auf einen Stock gestützt oder am Boden liegend. Sind beide Beine abgetrennt, wird eine passable Lösung garantiert, im Fall des zu kurzen Stumpfes, der keinen Halt ermöglicht, verschafft Jaipur Foot dem Leidenden ein per Hand zu betreibendes Sitzdreirad – ich sah darin eine Mutter ihre beiden Kinder auf der montierten kleinen Ladefläche zum Markt mitnehmen.

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Viele haben durch die Behinderung auch ihre Arbeit verloren, die auszuüben sie einfach körperlich nicht mehr in der Lage waren. Also hat Jaipur Foot zwei weitere „Prothesen” entwickelt: Die Ausbildung zur Schneiderin oder zum Friseur, dazu als Starterset eine einfache Nähmaschine bzw. einen tragbaren Frisiersalon im Koffer, mit dem man – wie in Indien üblich – unter jedem Baum sein Geschäft eröffnen kann! All das erzählt mir Clark Gables indischer Bruder, auch wie er sich diese drei Arten der Unterstützung finanzieren lässt:

Von reichen Unternehmern die er noch aus seiner Beamtenzeit kennt, von Geschäftsleuten, die er zum Tee einlädt und die nach einer Besichtigung dieser Mischung aus Hospital und Fabrik oft unter Tränen mehrstellige Schecks ausstellen. Dies mit der sonoren Stimme und im Tonfall eines wahren Gentleman erzählt und mit der Selbstverständlichkeit eines sozialen Denkens und aufopfernden Tuns, wie diese anscheinend der religiösen Untergruppe der Jain zu eigen sein scheinen. Ihr Respekt vor allen Lebewesen reicht im extremen Fall so weit, dass sie im Alltag Tücher über dem Mund tragen um nicht unabsichtlich Insekten einzuatmen, oder sie üben, um möglichst wenig Lebewesen auf dem Erdboden zu gefährden, meist sitzende Berufe aus – und sind Händler, Beamte oder Banker. Dieser honorige Herr also trug im Flugzeug und bei den weiteren Treffen immer einen „Safari-Anzug“ in dezenten grauen oder sandfarbenen Tönen.

Shri Devendra Raj Mehta ist sein Name, als ich damals kurz vor dem Rückflug die Sonderausgabe von INDIA TODAY zum 50. Jahrestag der Selbständigkeit Indiens las, fand ich ihn wieder, gemeinsam mit www.jaipurfoot.org in der Liste der „50 people India is most proud of today”.

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Die Tänzerin

Asmara, 17.1.2009

Ich sehe sie auf der gegenüber liegenden Seite der Harnet Avenue schon von weitem. Sie hat das Grazile vieler Frauen von Asmara, den Kopf allerdings kurz geschoren, dazu trägt sie Jeans und ein ärmelloses, schmutziggraues Unterhemd.

Was sie noch sichtbarer macht als ihr Aussehen, ist ihr „Tanz”: Eine runde Bewegung der grazilen Beine, die eher ein schnelles Schreiten als ein Gehen ist, die Arme dabei weit ausladend wie wenn sie vorbei fliegende Vögel einfangen möchte, dies aber abstrakt, eben tänzerisch dargestellt, wie ein weiblicher Nijinsky in „Nachmittag eines Fauns”. Ich gehe weiter und sehe sie noch lange, mich umdrehend, immer kleiner werdend, tanzend.

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Markttag, Keren

Massawa

Asmara

Asmara

Asmara

Massawa

Fahrt nach Keren

Massawa

Kriegsschäden, Massawa

Massawa

Massawa

T ’imk’et-Fest, Asmara

Sonntag in Asmara

Formaggeria, Asmara

T ’imk’et-Fest, Asmara

Keren

Markt, Keren

Ehemaliges US-Abhörzentrum, Asmara

Palazzo Valetta, Asmara

Tsada Amba

Nationalmuseum, Asmara

Mariam Dearit, Keren

Kloster Tsada Amba

Der Weiße

Keren, 29.1.2009

Keren ist laut Lonely Planet touristisch interessant wegen der bunten Märkte, einige Völkerschaften grenzen in diesem Gebiet aneinander, mit jeweils unterschiedlichen gewerblichen Spezialisierungen. Die nomadischen Rashaida sind die Betreiber und Lieferanten des Kamelmarktes, die Bilen haben das Monopol auf einen kleinen Holzmarkt.

Holz ist ein Luxusgut geworden, der Verbrauch durch die stark zunehmende Bevölkerung, die Verwendung zum Bau von Schützengräben und Unterkünften in Kriegszeiten ließen die Waldbedeckung von einem Drittel des Landes von vor hundert Jahren auf ein Prozent schrumpfen. Erosion und die damit zusammenhängende Wasserknappheit versucht man mittels Aufforstung abzufangen.

Hier, auf 1.400 Meter, ist Keren ein Ort der Zusammenkunft, des Austausches. Früher, durch die Eisenbahnverbindung mit Asmara, war es eine wirtschaftlich starke Stadt, trotzdem blieb es immer Provinz, Bauern vor allem die Bewohner. Entsprechend ist es in diesem Land, das Weiße inzwischen wieder als Exoten betrachtet, an diesem entlegenen Ort vermehrt spürbar:

Die Blicke, das Raunen, das Kichern hinter meinem Rücken, das verschämte Wegblicken, wenn ich mich umdrehe. War ich im Straßenbild Asmaras einer der wenigen Europäer, so bin ich hier einer der höchst seltenen weißen Besucher dieses Marktes. Während meine Gedanken um das Exotische, das ich für diese Menschen darstellten musste, kreisen, ertappe ich mich selbst bei der viel uncharmanteren Variante von

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Neugier – dem Voyeurismus! Zwischen den improvisierten Marktständen, die durch an Stöcken befestige Tücher definiert sind, ist ein junger Bursche mit dem Schleppen von gebündeltem Holz beschäftigt. Er ist, seiner Jugend entsprechend – er mag vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt sein –, schlaksig, hochgeschossen, mit dünnen Hosen, einem langärmeligen Trikot eines deutschen Fussballklubs und abgewetzten Sportschuhen bekleidet.

Niemand außer mir starrt ihn an, niemand hat Interesse an seinem weißen Kraushaar unter der zerrissenen Schirmmütze, den gleichfarbigen Augenbrauen und dem extrem hellen Hautton, der seiner genetischen Besonderheit entspricht. Niemand starrt in seine Richtung – außer dem Weißen…

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Das Maß der Dinge

Massawa, 23.1.2009

In Ghinda macht der Bus eine halbe Stunde Pause, am Halteplatz ist gerade Wochenmarkt, die Bauern der Umgebung bringen Tomaten in Holzkisten, legen Chillis in exakten Abständen zum Verkauf auf zerschnittene Saatgutsäcke, bieten ihre Orangen, roten Zwiebeln und Kürbisse an. Mais wird über kleinen Holzkohleöfen geröstet, Kaffee aus kleinen verbeulten Kännchen ausgeschenkt.

In der Mitte des staubigen Bushalteplatzes findet eine Lotterie statt: Jemand verkauft handnummerierte Kartonkärtchen um jeweils einen Nakfa, also fünf Cent, in der Mitte der dichten Menschentraube zieht der Lotteriebetreiber die Gewinnzahlen aus einem kleinen Plastikkübel. Der Besitzer der entsprechenden Zahl kann sich seinen Gewinn abholen:

Ein grüner Plastikspiegel, eine gebrauchte Taschenlampe, ein rostiger Schraubenzieher. Kurz vor dem Einsteigen kaufe ich einem kleinen Mädchen für zwei Nakfa geröstete Erdnüsse ab. Als Maßeinheit hat sie den Plastikschraubverschluss einer Coca-Cola-Flasche, den sie zwei Mal übervoll anhäuft und lächelnd in meine offene Hand entleert.

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Vier zu eins

Keren, 26.1.2009

Manchester United gegen die Tottenham Spurs. Samstag Abend ist Fußball im TV und ganz Eritrea sieht zu – zumindest scheint es so. Die Fernsehgeräte an den Straßenrändern vor den Cafes und in den Hinterzimmern sind alle auf denselben Sender eingestellt. Stundenlang wird übertragen, stundenlang trinkt man an seinem Glas Wasser um einen Nakfa.

Ich bin der einzige der Cafe Macchiato trinkt, um vier Nakfa, also 20 Cent. 4:1!

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Private *

Keren, 28.1.2009

„Hey Anthony, das wird ein Abenteuer!” Dazu stelle ich mir zwei englische Burschen um die 17 vor, neugierig genug, um mehr vom Leben zu wollen, als in die schmutzigen Fußstapfen ihrer Väter in den Kohlebergwerken von Tilbury zu treten. Jungs, etwas grobschlächtiger als die Upperclass-Schnösel aus dem Film „Der englische Patient” – aber sehr wohl wissend um die weltweite Macht des British Empire. Sie hatten begeistert über die Expeditionen von David Livingstone zum Blauen Nil gelesen, die Berichte Sir Richard Burtons über seine Kontinente verbindenden trickreichen Abenteuer verschlungen.

Man könnte sich beim lokalen Stellungsbüro melden, bekäme eine militärische Ausbildung, diente in einem wunderbar exotischen Land und machte mit etwas Glück Karriere. Ein Jahr später wurden vielleicht gerade diese beiden mit Fish’n’Chips und Christmas Pudding aufgezogenen Burschen als Kanonenfutter in geheimer Mission an die sudanesische Grenze zu Eritrea verschifft, während zeitgleich aus den Kolonien des Empire Truppen ebenfalls dorthin verbracht wurden:

Her Majesty’s Cameroon Highlanders, die 6th Rajputana Rifles, die Männer der Sudan Defence Force. Wenn man heute durch den British War Cemetary geht, ist man umgeben von toten Teenagern, jungen Männern in ihren Zwanzigern, wenige waren Anfang dreißig. Mit 440 Grabsteinen, die ihre schottische, irische, arabische oder indische Herkunft dokumentieren, ihre soldatische Aufgabe, ihr Alter, die Einheit und den Rang.

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Anthony Simmons und sein Freund – wie auch immer er geheißen haben mag – haben neben ihren Namen keine militärischen Titel stehen, sie waren nämlich PRIVATE, gewöhnliche Soldaten. Am anderen Ende der Provinzhauptstadt Keren liegt der italienische Friedhof mit einer ähnlichen Anzahl an Grabsteinen. Großbritannien gewann den Kampf um Eritrea 1941, schon sieben Jahre später zogen sich die Sieger der Schlacht um Keren wieder aus Afrika zurück.

*die Einleitung inspirierte der abgebildete Grabstein.

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Die Madonna im Baobab *

Keren, 26.1.2009

1001 Nächte hatte Aisha an der Seite ihre Ehemannes verbracht. In vielen hatten sie versucht, ihrer gottgegebenen Aufgabe, Kinder zu zeugen, nachzukommen. Ibrahim war ein braver Mann, der sich liebevoll um die kleine Herde Ziegen kümmerte, das Hirsefeld am Dorfende bestellte und der ihrer Familie schon immer gefallen hatte. Im Wechsel der Jahreszeiten und Aufgaben war er routiniert, säen und ernten, das Entbinden der Zicklein, überall hatte er die Abläufe der Natur verinnerlicht – und trotzdem machte er ihr keine Vorwürfe, sogar nach 1001 Nächten nicht.

Aisha wusste aber auch um ihre eigenen Aufgaben – das Führen des Haushaltes, das beschwerliche Holzsammeln, die aufwändige Vorbereitung des Injera-Teiges für die täglichen Fladen sah sie als selbstverständlich an, auch das, was sie sich für heute vorgenommen hatte. Um zu wissen, was zu tun war, brauchte es nicht der fragenden Blicke der Schwiegermutter oder der herablassenden Worte der von ihren Kindern umringten Nachbarinnen.

Mit Ibrahims Einverständnis nahm sie den Bus um sechs Uhr früh nach Keren, der Provinzhauptstadt. Der Busbahnhof beim Corso Fiori lag zentral, auch wusste sie noch, in welche Richtung sie gehen musste, hatte sie doch ihre Schwester vor Jahren bei ihrem erfolgreichen Unternehmen hierher begleitet. Entsprechend der Tradition hatte sie in ihrem Bastkorb ein Säckchen mit Holzkohle, den Ofen aus recyceltem Blech, Stößel, Mörser, Zucker, zwei Tassen und natürlich die Kaffeebohnen.

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Vorbei an der Post, dem Awet-Hotel, die Marktstraße hinunter, vorbei am italienischen Friedhof, runter zum trockenen Flussbett, den Weg abkürzend. Die Hitze begann zunehmend sich des Tages zu bemächtigen, als sie endlich den Baum erreichte. Wie eine Festung stand der Koloss mit seinen sicherlich 20 Metern Umfang am Ende der kleinen Allee, der dazugehörige kleine Park von einem gusseisernen Zaun eingefasst. Sauber gerechter Schotter umgeben von Maisfeldern und den ersten Ausläufern der Wüste.

Zuerst sprach Aisha ihre Gebete im hohlen Inneren des Baumes zur Statue von Maryam Dearit, nachdem sie sich durch einen schmalen Spalt in den leeren Kern dieses riesigen Baobabs gezwängt hatte. Darin ist gerade genug Platz für eine Gebetsbank zum Hinknien und natürlich die erhöht auf einem Podest montierte Marienstatue. Nach dem Aussprechen ihrer Wünsche ging sie wieder hinaus und begann im Schatten der ausladenden Äste mit der Kaffeezeremonie…

Aus Maryam Dearit entspringt angeblich die Fruchtbarkeit. Wenn sich eine Frau einen Ehemann oder Kinder wünscht, so bereitet sie im Bereich des Baumes Kaffee zu. Kommt jemand vorbei – der kein Bittsteller sein darf – so wird der Wunsch erfüllt. Die „Madonna vom Baobab”, eigentlich der Baum selbst, war schon lange im Volksglauben verankert, als im 19. Jahrhundert die Sisters of Charity die improvisierte Kapelle und die Marienstatue stifteten. 1941, bei einem Angriff britischer Bomber, versteckten sich italienische Soldaten im Baum.

Dieser wurde getroffen, Soldaten und Schrein blieben unversehrt. Nie werde ich wohl erfahren, ob ich durch das Trinken einer Tasse schwarzen, süßen Kaffees eine Ehe gestiftet oder ein Kind bewirkt habe.

*Auf lokalem Glauben basierender Beginn der Erzählung.

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Bercher

Asmara, 3.2.2009

Die Leistungen eines sozialstaatlichen Konzeptes sind für uns eine Selbstverständlichkeit. Das Fehlen davon eine brutale Realität in Eritrea. Als ich mir an einem Sonntagmorgen an einem der gegen die aufkommende Hitze mit einem Sonnensegel überdachten Stände die Schuhe putzen lasse, setzt er sich neben mich.

Sofort ist mir klar, dass er kein Kunde ist, seine schmutzigen Schuhe haben längst keine Schnürsenkel mehr. Unaufdringlich und irgendwie charmant beginnt Bercher eine Konversation, die in Nebensätzen auch sein eigenes Leben beinhaltet. Er versucht nicht, mir etwas zu verkaufen (sonst sehr üblich: italienische Münzen aus den 40er Jahren) oder etwas zu erbetteln, er ist einfach ein Mann Ende 50, am Ende. Wenn in Europa jemand bettelt, dann ist der Standardspruch „für etwas zum Essen” (um sich dann vielleicht Heroin oder ein Substitut davon zu besorgen), hier sagt man „Money for coffee”.

Also lade ich Bercher unaufgefordert zu Kaffee und Kuchen ein. Tatsächlich bestellt er sich im “Sweet Asmara” zum Cappuccino verschmitzt zwei Kuchen und zwei Pizzaschnitten. In den nächsten Tagen werden wir uns mindestens einmal täglich auf Kaffee, Kuchen und mehr treffen, er ist immer an der selben Kreuzung beim Cinema Impero anzutreffen, immer gleich gekleidet in Jeans, Jeansjacke und schmutzigen Sweater. Dort versucht er auch tatsächlich Münzen an die wenigen Touristen zu verkaufen.

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Eritrea erfahren: nämlich ausgebeutet zu werden. War das Land von 1880 bis in die 1940er eine saftige, von Rom ausgepresste Frucht, so wurden danach – meist aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen – flüchtende Landsleute als Billigstlohnarbeiter ausgebeutet, vor allem in Italien. Dort war Bercher, trotz seiner qualifizierten Technikerausbildung, als Fahrer und Kellner tätig – und investierte in ein eigenes Geschäft.

Dann geschah etwas, was er mit „My brain melted… like butter…!” – einem psychischen Ausnahmezustand, beschreibt. Die Folgen davon waren Jobverlust, Betrug durch seine Geschäftspartner und letztendlich Abschiebung. Was immer auch daran stimmen mag, spürbare Tatsache ist, dass er seit sieben Jahren tagsüber auf der Straße lebt, nachts mit drei Freunden ein Kellerappartement teilt und keine staatliche Hilfe bekommt.

Arzt, Wohnung, Kleidung, Essen – alles ist selbst zu bezahlen und eigentlich nicht leistbar in dieser Heimat mit einer rasenden Inflation und mindestens 30 Prozent Arbeitslosigkeit. Für Tausende hier in der Hauptstadt.

Einer davon trägt seit heute ein Paar kaum gebrauchte Adidas-Sportschuhe, ein sauberes Hemd und hat Kleingeld für einige Cappuccinos…

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Kaffee

Kairo, 7.2.

Rückflug, Flughafen Kairo.

Nach drei Wochen abessinischem Hochlandkaffee, Dutzenden der besten Macchiati und Cappuccinos 2000 Kilometer südlich von Italien verspüre ich keinen Wunsch auf eines der Lokale über den Flugsteigen.

Hier stehen sie, nebeneinander aufgereiht: Starbucks, Coffeebean & Tealeaf, Beanos – und dazu noch ein ebenfalls Kaffee anbietender McDonalds.

Genuß, Überfluss, Überdruss.

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Tsada Amba

Keren, 29.1.2009

Gerade noch rechtzeitig kann ich den Sechs-Uhr-Bus nach Hagaz besteigen, der Busfahrer weiß die Biegung, an welcher der Fußweg zum Kloster Tsada Amba beginnt. Die aufgehende Sonne offenbart eine Wüste mit Dornbüschen, den für diese Gegend typischen, mit Stroh gedeckten Rundhäusern und steile Berge mit teilweise pitoresken Felsnadeln dazwischen.

Als ich in Asmara eine Woche zuvor ins Bürogebäude der Tewahido, der Vereinigung der orthodox-christlichen Kirchen und Klöster des Landes, ging, um mir für zwei Klöster die Besuchserlaubnis um je zehn Dollar zu holen, stand ich vor einer verschlossenen Tür. Darauf klebte ein Zettel, der kategorisch darüber informierte, dass alle Klöster seit Monaten wegen Restaurationsarbeiten geschlossen sind. Verwirrend, dass Eritrea eine seiner wenigen möglichen Einnahmequellen einfach schließt.

Näheres über diesen skurrilen Entscheid in einem Land, das sicherlich nicht über den Luxus einer Restaurationsbudgets seitens der Kirche oder des Staates verfügt, war nicht zu erfahren. Als ich Christoph, den deutschen Architekten und Ausstellungsmacher im Hotel zu einem seiner informativen Ausflüge in Asmaras neuere Geschichte abholen möchte, sitzt er gerade mit einem örtlichen Tourismusfachmann zusammen. Der kann meine aufgeregte Story von den verschlossenen Klöstern kaum glauben, sieht sie aber als typisch für die Ignoranz gegenüber der Einnahmequelle Tourismus.

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Umgehend ruft er mit seinem Mobiltelefon einen Kollegen an – und nach zwei Minuten notiere ich den Geheimtipp Tsada Amba, bei Hagaz, in der Nähe des sowieso anvisierten Keren. Hagaz ist der westlichste mögliche Punkt auf meinem staatlichen Erlaubnisschein. Er bittet mich aber, ihn als Informanten sofort wieder zu vergessen, ich verspreche lachend, ihn mir als schwedische Blondine zu merken. Links der Schnellstraße führt eine Schotterstraße in Richtung einiger Hügel und hoher Felsmassive.

Unterwegs halte ich eines der Sammeltaxis an und fahre zu einem Ort, in dem sich ein junger Lehrer als Führer anbietet. Ich hatte den Aufstieg aufgrund der wenig ergiebigen Internetsuche in Keren als eher leicht zu finden eingestuft und so entsprechend wenig Zeit, Geld und Geduld mitgenommen. Der junge Mann dramatisiert den Weg als gefährlich wegen Tigern(!) und Affenhorden. Als ich ihm die Summe nenne, die ich bezahlen kann, einigen wir uns darauf, dass er mich bis zur Aufstiegstelle begleitet und mich mit den nötigen Informationen zum Erreichen des Ziels versorgt.

Tatsächlich stehe ich bald vor einem stetig ansteigenden, sandigen Viehpfad, der zu einem steilen Geröllfeld führt, durchsetzt mit Krüppelbäumen und Dorngestrüpp. Was schon absehbar war, die erwartete Schwierigkeit des Geländes, vervielfältigt sich jetzt vor Ort: mannshohe Felsen, Dutzende zu erahnende kleine Fußpfade, eher von Ziegen als von Menschen ausgetreten.

Eine Zeit lang ist das eine nette Herausforderung, nach vier Stunden wird es allerdings zur Qual, auch wenn die angestrebte Bergkuppe immer näher zu kommen scheint. Unterwegs bietet mir eine ca. 60-jährige Mutation aus Mensch und Gämse seine Hilfe an und führt mich auf einen etwas deutlicher erkennbaren, leichteren Pfad, der allerdings in der prallen Mittagssonne liegt.

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Um einen Hitzeschlag zu vermeiden, lege ich mich für eine Stunde
in den Schatten eines Felsens, mein inzwischen knapper Wasservorrat macht mir bereits Sorgen. Über zwei, drei weitere Kuppen schleppe ich mich bereits durstig und entkräftet, zwischendurch höre ich die talübergreifenden Rufe und Pfiffe der Ziegen hütenden Buben. Als ich bereits glaube, mich verirrt zu haben, blicke ich auf ein leicht ansteigendes Hochplateau, an dessen Ende sich aus dem Grau der Felsen langsam die Form von Häusern herausschält.

Endlich! Was ein Kloster ist, wirkt eher wie ein winziges Dorf, Mönche in dünnen braunen und orangefarbenen Kutten sehe ich, nur zwei, dafür aber neugierige Jugendliche und – Frauen! Die meisten Klöster Eritreas haben eine strikte „Men-only“-Regel, die sogar weibliche Tiere ausschließt, vergleichbar dem Berg Athos in Griechenland.

Dann wiederum lässt mich die Erwähnung des mich herzlich begrüßenden Bruders Abraham, dass ab drei Uhr nachts bis sieben Uhr früh gemeinsam gebetet wird und danach noch persönliches, vier Stunden währendes Studium der Heiligen Schriften Pflicht ist, eher an ein japanisches Zen-Kloster denken.

Als ich ihn frage, warum er Mönch geworden ist, sagt er ganz sanft: „Weil es der direkte Weg in den Himmel ist!” Zwei Liter in der Zisterne gewonnenes Regenwasser trinke ich in fünf Minuten aus, ebenso drei große Becher süßen Tees danach. Ich erkunde das Kloster mit seinen zwei Nutzgebäuden, der kleinen Kirche, den zehn Mönchszellen und den beiden Novizen-Schlafhäusern – alles aus dem vorhandenen Naturstein, aus Felsen, erbaut.

Und dann dieser großartige Ausblick auf die umgebende Bergwelt: ganz klar ist die Luft bis in die sicherlich 1.000 Meter tiefer liegende Savanne, scharf bilden sich die skurril geformten Spitzen und hervorragende Felskegel im gegenüber liegenden Gebirgsmassiv ab.

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Alle Männer hier sind Mönche oder Mönche in Ausbildung, die sieben Frauen sindSchwestern, das Kloster leitet ein respekteinflößender Abt mit weißem Haar und einigen Silberzähnen. Alle treffe ich vollzählig versammelt vor, als ich dem Gesang folge, der mich um fünf Uhr früh endgültig aus dem Bett in der mir zugeteilten Klause von der Holzpritsche holt.

Myriaden von Sternen und eine nadelscharfe Neumondsichel leuchten über den Bergen, die Tür zur Kirche steht einen Spalt offen, ich bleibe an die Mauer gelehnt draußen stehen. Rhythmisch und dunkel klingen 15 Stimmen aus der Kirche in die Nacht – ungehört im alles umgebenden schlafenden Universum. In mir schwingt dieser magische Moment ganz wunderbar.

Durch den Türspalt hat mich der Abt entdeckt, er holt mich in die Gemeinschaft, er gibt mir einen der langen Stöcke, auf die alle Mönche im Raum gestützt sind, und weist mir einen Platz in der Reihe zu, mich ebenfalls in ein weißes Leintuch einhüllend. Was sich hier in den folgenden zwei Stunden abspielt, ist die hochornamentierte, hyperbarocke Version eines Gottesdienstes.

Ein Fluss an Bewegungen – mehrmaliges Wechseln der Aufgaben und der
Bekleidungen – zieht an mir in diesem kleinen Raum vorbei, die Rituale finden teilweise hinter einem Vorhang in einem gemauerten kleinen Würfel innerhalb des kleinen Kirchenraumes statt, dem eigentlichen Altarraum.

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Immer wieder gibt der Abt den Novizen Anleitungen, abwechselnd wird aus ständig ausgetauschten heiligen Büchern von einem Pult abgelesen. Das alles im Schein der filigranen, handgekneteten eritreischen Kerzen. Nach einer Serie von Wandlungen und vermeintlichen Beendigungen der Zeremonie spricht der Abt letzte Worte, und wir gehen hinaus in den anbrechenden Tag – auch die sieben Schwestern, die während der ganzen Zeit nur am Rand standen oder knieten und keine aktive Rolle im Ablauf hatten. Immer noch gezeichnet von der gestrigen Strapaze lege ich mich in der Klause nochmals aufs Bett und werde um neun Uhr zum Frühstück geholt.

Süßer Tee, frisch gerösteter Kaffee und kakaofarbenes, saures Fladenbrot. Dazu essen die Mönche geschmorte Fleischstückchen und wollen alles über die Christen in Europa und über meinen Glauben wissen. Ich kann ihnen leider nicht viel ihrem Weltbild Entsprechendes bieten und schwenke um auf die Historie dieses Ortes, der ja nur einer von drei heiligen Plätzen auf diesem Bergrücken ist. Selassie Maryam heißt das Kloster hier, die Dreieinigkeit und die in Eritrea hoch verehrte Maria kommen im Namen vor.

Das eigentliche Kloster Tsada Amba liegt einige hundert Meter höher, auf einem Bergrücken. Mir wird ein Führer zur Seite gestellt, ein Kriegsveteran, 50 Jahre alt, mit einer Wunde, welche die Hälfte seines Bauchraumes fleischig rot verunstaltet. Mutu hat trotzdem die Behändigkeit eines – hier wieder als gefährlich geschilderten – Tigers. Also wandern wir auf schmalen Pfaden den Berg hinauf, nach 90 Minuten erreichen wir eine Felsplatte, groß wie ein Fußballfeld mit einer monströsen, neu errichteten Kirche.

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Der Glaube kann Kirchen auf Berge versetzen, speziell der Glaube, dass Maria (die aus der Bibel) hier in der Gegend Zuflucht fand. Ist das Werk menschlicher Glaubens- und Willenskraft unterhalb in Selassie Maryam schon mehr als beeindruckend gewesen – diese Kirche übertrifft das noch bei Weitem. Was dann folgt, ist nur noch mit Zauberei oder der Mithilfe elysischer Heerscharen erklärbar.

Der dritte Teil dieser klösterlichen Dreieinigkeit befindet sich auf einem Bergrücken, vielleicht 100 mal 300 Meter lang, an drei Seiten steil abfallend (eine davon exakt senkrecht) in die mehr als tausend Meter darunter liegende Savanne. Wie eine riesige Klinge aus grauem Stein. Die einzige Verbindung zur Welt ist ein 100 Meter langer Grat, ohne sicheren Tritt – man kann nur wie auf einem spitz zulaufenden Pferderücken hinübergleiten, eine kurze Unsicherheit bedeutet den sicheren Tod.

Vor dem Hintergrund dieses halsbrecherischen Weges ist der Umstand, dass sich – mit dem Zoom der Kamera erkennbar – auf der anderen Seite des Grates eine Kirche und zwei Wohnhäuser für die zehn Mönche befinden, einfach unglaublich! Oder ein Grund, plötzlich religiös zu werden.

Der Mönch, der dieses Kloster ca. 1640 gegründet hatte, wurde jedenfalls von der eritreisch orthodoxen Kirche heilig gesprochen. Mutu, der behende Tiger, führt mich wieder hinunter auf die Hochweide vor Selassie Maryam, er will dort weitergehen, wo ich mich gestern hinaufgequält habe, um im Dorf unten in einer heiligen Quelle seine oft schmerzenden alten Wunden zu waschen.

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Ich wähle die andere Möglichkeit des Abstieges, steil bergab auf verwinkelten Weidesteigen in ein riesiges, weißsandiges Flussbett, das ich nach vier anstrengenden Stunden auch erreiche. Ziegenherden, kleine Weiler, mit Stroh gedeckte Rundhäuser säumen meinen Weg, in einem bekomme ich von der jungen, sehr hellhäutigen und – wie am Land üblich – auf der Stirn mit einem blauen Kreuz tätowierten Hausfrau meine Wasserflasche wieder aufgefüllt. Im schwindenden Tageslicht gehe ich noch zwei Stunden im Flussbett und passiere ausladende Bäume, die mitten darin stehen und unter denen Kinder rasten, die mit Eseln volle Wasserkanister in die Weiler transportieren.

An der Hauptstraße angekommen, sehe ich gerade noch eine rosa Grapefruit hinter den Bergen untergehen, der letzte Bus von Hagaz nach Keren dürfte schon gefahren sein – also autostoppe ich. Rasant bremst sich ein junger Mann ein, einen riesigen Kanister auf dem Rücksitz. Er war gerade in Afabet, 100 Kilometer weiter, Benzin kaufen, weil in Asmara, wo er auch seine Eierfarm hat, gerade keines erhältlich ist.

Aber eigentlich komme er aus Oslo, sagt er scherzhaft – er sei zurückgekommen, um sich vom Staat seine Geschäftsideen torpedieren zu lassen. Die eritreische Realität hat mich wieder! Apropos Oslo – Danke an die “schwedische Blondine” für den Tipp mit dem überirdischen Kloster Tsada Amba!

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Free Country

Asmara, 20.1.2009

„Assab?” – „No!”
„Edi?” – „No!”
„Thio?” – „No!”
„Marsa Fatma?” – „No!”
„Nafka?” – „No!”
„Teseney?” – „No!”
„Afabet?” – „No!”
„Hey, now there are only a few places left to go!” –
„What do you expect, this is not a free country!”

Tourism Center Asmara, hier müssen die Reisedokumente für sämtliche erlaubten Orte außerhalb der Hauptstadt beantragt werden.

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Palermo

Keren, 31.1.2009

Giulio, der Enkel des Erbauers der Pensione Sicilia hat diese italienisch lockere, trotzdem leicht arrogante Art, die Liebe zu Kleidung und Schuhwerk, wie man sie von einem ragazzo aus einer italienischen Großtadt kennt. Die Großeltern sind in den 30er Jahren von Palermo nach Keren ausgewandert, um diese Albergo zu eröffnen – im wirtschaftlich boomenden Teil des neurömischen Reiches Africa Orientale Italiana, in Eritrea.

Giulios Vater hat sich in die Tochter eines örtlichen Getreidehändlers verliebt, das Produkt dieser Liaison ist er – der halbe Italiener immer noch spürbar. In seinem Sohn Ibrahim halbieren sich wiederum die europäischen Anteile – ein kleiner, arabisch aussehender Junge, der gerne auf der von Verwandten aus Palermo geschickten Playstation spielt.

Und wieder sitzt die dreibeinige Katze abends mit einem ihrer vier Jungen im grünen Hof auf der Schwelle meiner Zimmertür. Giulio meint, er füttere sie nicht, aber die Trompetenbüsche seien nächtens voller Vögel.

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Lulu, Mimi, Froufrou

Massawa, 24.1.2009

Was Johannes Heesters 1938 so beschönigend in dem Lied „Da geh’ ich ins Maxim” besang, gab es sicher auch damals hier in Massawa: Prostitution. Konkret in traditioneller, logischer Kombination mit Hafenstadt und Schifffahrt. Was hier für Matrosen nach Monaten auf See zur Unterhaltung geboten wurde und wird, ist wenig spektakulär im modernen, westlichen Sinn – aber nach wie vor ein essentieller Teil von Massawa.

Spaghetti, mit rasch gerösteten Fischstücken, ein paar Tomatenwürfel à l’arrabiata, das ist mein Mittagessen im Arag Bar-Restaurant im Hafen, als sich Rutha an meinen Tisch setzt, im Glauben, mein Menü „erweitern“ zu können. Sie ist ungefähr 30, hat diese wunderbare Mischung aus afrikanischer Haut, arabischem Profil und glattem asiatischen Haar – kombiniert mit einem ausgezehrten Körper, schlechtem Teint und zwei Goldzähnen.

„I have seen you, yesterday evening!”
„Hmm,..?”
„You walked past my bar, but did not come in!”

Das mag stimmen, besteht doch halb Massawa aus Bars, ganze Gassen voll mit meist erst abends geöffneten Lokalen – mittels Neonröhren in kräftigem Rot, Türkis oder Orange illuminiert. Ein sehr buntes Rotlichtviertel – quasi. Ganz schön vielfältig, ganz schön schummrig und ganz schön laut der Sound von eritreischem Soul oder Disco-Klassikern aus riesigen Boxen. Die Türen sind abends immer offen, durch Glasperlenvorhänge oder simple, bunte Plastikstreifen ersetzt.

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In diesen Bars mit Designelementen, mit denen man in den 50er Jahren einen karibischen James Bond trashig ausstatten hätte können, sitzen Mädchen und Frauen mit verschiedenen „Aufgabenbereichen“. Da wird an der Ecke noch Kaffee auf Holzkohle geröstet und gebraut, da sitzen auf Sesseln vor dem Eingang Frauen in diversen Stufen der „Aufreizendheit“, im Inneren der Bar lungern unscharf erkennbar weitere Damen und wenige Gäste.

Die Geschäfte gehen langsam, ich dürfte in diesen Tagen der einzige Tourist hier sein, große Schiffe liegen momentan keine im Hafen und die UNO hat ihre Soldaten schon vor längerem aus dieser Gegend abgezogen. Trotzdem werde ich höchstens mal nett gebeten, mich doch dazu zu setzen – aber die Musik dröhnt zu laut, das Ambiente ist zu ungewohnt und die Absichten sind zu absehbar, um diesen Aufforderungen nachzukommen.

Rutha erzählt mir an diesem Mittag, über ihren Teller mit Maccaroni al pomodoro gebeugt, dass die Geschäfte okay wären und heute Abend ein Schiff voller philippinischer Matrosen erwartet werde: nette, gute Kunden. Zu uns gesellt sich eine jüngere Kollegin, die wortlos die Reste auf unseren Tellern verspeist, während der Barbesitzer und diverse lokale Honoratioren grüßend vorbeigehen. Rutha hat eine sechsjährige Tochter in Asmara und bestätigt mir, dass die meisten der „working girls” ein Kind haben, meist allein erziehend – ist doch ein Kind für Frauen die Garantie, nicht in den mehrjährigen Soldatendienst einberufen zu werden. Oft sieht man die Kinder abends vor den Lokalen noch mit den Müttern spielen.

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Die vielen Ebenen von Moral und Überlebenskunst spiegeln sich auch darin wieder, dass die Branche fest in der Hand christlicher Frauen – meist aus Asmara – und die Konsequenz der hohen Lebenshaltungskosten dort sei.

Und der vornehmlich konservativ-moslemischen Bewohner Massawas. Zwischendurch fällt mir immer wieder der Unterschied zwischen Ruthas entspannt wirkendem Lächeln und der kurzen Haltbarkeit dieser Fassade auf, wenn wir über die Realität und ihre Zukunft sprechen.

Noch ein Scherz, ob ich nicht ihre Rechnung begleichen möchte – was ich auch tue –, und die Damen verabschieden sich für ein Nachmittagsschläfchen vor der kommenden Nachtschicht. An deren Beginn werden sie einen Tontopf mit glühendem Weihrauch in die Tür der Bar stellen. So wie an jedem Abend.

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Massawa, Perle des Roten Meeres

Keren, 26.1.2009

Portugiesen, Araber, Türken und Ägypter haben hier über Jahrhunderte regiert, dann kamen die Briten, die es 1885 an die Italiener verloren. Heute gehen Container voll Getreide von Bord oder wird Kriegsschrott verladen – früher war es „Exotischeres“ wie Sklaven, Giraffen, Strauße, Gewürze oder Myrrhe. Vor allem die Türken hinterließen auf diesen vorgelagerten zwei Inseln ein dichtes Netz an Gassen voll mit Speichern, Bürgerhäusern und Geschäften in kühlen Arkadengängen.

Da, wo Mauerwerk nicht verputzt ist, sieht man den verwendeten weißen Korallenstein, teilweise sind komplette Korallenäste und Muscheln im Sediment sichtbar. Bevor Asmara zur Hauptstadt der italienischen Kolonialherren wurde, hat man hier viel und schön gebaut – der Gouverneurspalast diente in den 60er Jahren dem äthiopischen Gottkönig Haile Selassie als Winterresidenz, Partys und Bälle fanden hier statt.

Fischfang wird nur geringfügig, zum lokalen Genuß und dem der vor allem eritreischen Touristen betrieben. Da gibt es dann in der Pensione Luna Spaghetti mit frisch ausgelösten Scampi, im nahezu komplett in Türkis eingefärbten Restaurant Salaam Fisch, der auf yemenitische Art als Ganzer in einen tönernen Ofen gesteckt wird. So verkohlen die Schuppen und das Innere glänzt zart Weiß. Dazu gibt es Chillisauce, Fladenbrot und 20 bettelnde dürre Katzen rund um meinen Tisch unter klarem Sternenhimmel.

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Am Vorabend hatte ich, bei einem Hafenlokal vorbeischlendernd, mich zu den in einer angenehm kühlen Brise im Freien Sitzenden gesellt und mit ihnen gemeinsam Hellboy II. im englischen Original mit arabischen Untertiteln auf einem saudischen Sender gesehen. Das TV-Gerät wurde einfach auf die Straße gestellt. Dazu gab es auf Wunsch um Mitternacht noch einen Teller mit gedünsteten Fischstreifen und viel Knoblauch.

Wegen dieses genial flexiblen Cafe/Bar/Kino/Restaurant-Konzeptes kam ich in den nächsten Tagen immer wieder vorbei, um mittags die angenehm Kühle der Arkaden zu genießen oder abends einen Kino-Blockbuster zu sehen. Es ist leicht zu finden: gegenüber dem Hafentor, dem zerbombten kolonialen Verwaltungsgebäude, neben der schummrigen Bar Eden.

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Der Rekord

Massawa, 24.2.

„You are now the record holder!”
„What?”
„Nobody has been here before for six and a half hours!”

Ich hatte soeben in der sogar im Jänner kaum erträglichen Tageshitze von Massawa im Internet Training Center unter den schattigen Arkaden der Altstadt meine handschriftlichen Aufzeichnungen bis in den kühlen Abend hinein abgetippt und ergänzt. Über den aktuellen Rekordhalter informiert Shumai gerne unter ifilyes@gmail.com

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Paranoia

Asmara, 5.2.2009

Hier im Internetcafe sitzend beschleicht mich ab und an der Gedanke, jemand vom garantiert existierenden Spionagedienst dieses Staates könnte meine Mails lesen.

Einige Passagen hätten sicherlich unangenehme Konsequenzen für mich.

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Den Den und Dig Dig

Asmara, 3.2.2009

Nafka liegt ca. 200 Kilometer nördlich von Asmara, auf halbem Weg in den Sudan. Das einzige Gebäude, das den Krieg mit mehr als zwei stehenden Wänden überlebt hat, ist die Moschee. Sie ist ein Symbol für den unbändigen Glauben der Kämpfer – vor allem an ihr erst vor kurzem zurückgewonnenes Land, die nach diesem Krieg entstandene Währung wird den Namen dieses Ortes tragen.

Am Besten stellt diesen unabdingbaren Über-Lebenswillen das System von Gräben, unterirdischen Wohnungen, Schulen, Fabriken (z.B. für Waffen, aber auch für Literatur) sowie das ebenfalls unterirdische Tsa’Abraha-Hospital dar. In den Bunkern mit 2×1 Metern lebten, kämpften, schliefen fünf bis sechs Soldaten bis zu 18 Monate – ohne Unterbrechung.

25 Kilometer dieser alles verbindenden Gänge gab es, teilweise sind sie noch immer mit Schutt, Gebeinen und scharfer Munition gefüllt.

Die Landschaft rundherum ist übersäht mit leeren, abgefeuerten Geschossen, mit Kriegsmüll. Für europäische Ohren lieblich klingt Den Den, ein Doppelgipfel, von dem aus täglich Berichte gefunkt wurden, unabsichtlich makaber benannt ist Dig Dig, die Knochensammlung der Getöteten – heißt doch „dig“ graben, buddeln auf Englisch.

Also ich in Massawa einen Hotelbetreiber auf zwei in den Straßen herumirrende ältere Männer in Uniform (einer davon zieht sich andauernd die Jacke aus und an, der andere lehnt meist derangiert und abwesend auf den Stufen eines geschlossenen Geschäftes) anspreche, meint er nur: „They have been fighting…”.

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Geldverkehr

Asmara, 1.2.2009

Der großspurige Dienstwagen des Worldbank-Repräsentaten in Eritrea steht in der Auffahrt der frisch renovierten modernistischen Dienstvilla. Das Kennzeichen lautet ‚ER0004’. Wer mag wohl die Nummern 0001 bis 0003 besitzen?

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Alte Schule

Asmara, 1.2.2009

Die verschrumpelten alten Männer in ihren vor 40 Jahren elegant gewesenen dreiteiligen Anzügen, vielleicht ein zerknautschter Borsalino, vielleicht ein dem Alter entsprechender Gehstock.

Sich durch einen der wenigen Touristen – er könnte ja Italiener sein – ein wohliges Gefühl verschaffend mit einem im Vorbeigehen ausgesprochenen „che bella giornata!” oder einem „come stai?”.

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Luxus

Asmara, 3.2.2009

Der rot livrierte Doorman der Albergo Italia sitzt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, im Schatten. Das teuerste und nobelste Hotel von Asmara (und Eritrea) ist in einem vermeintlichen Stadtpalais untergebracht, Marmor und Spiegel im Foyer, auf den Fluren und in den Zimmern – eigentlich aber die Adaptierung eines der üblichen simplen, engen Hotels der Kolonialzeit.

Ein Quantensprung von den 100 Nakfa (5 Euro) der letzten Nächte in der Pensione Pisa gegenüber der Kathedrale auf 100 Dollar die Nacht. Der Doorman erkennt mich nach dem morgendlichen Einchecken bereits und läuft über die Straße, um mir die Tür zu öffnen.

Die Tür zum Luxus einer Nacht mit lauwarmer Dusche, BBC-Worldnews und CCTV aus China im Kabel-TV und einem Barkeeper, der keinen Gin Tonic mixen kann, weil der Coca Cola-Konzern seine Niederlassung in Eritrea wieder schloss – daher auch kein Tonic vorhanden ist.

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