KEINE
SACCRAMENTE

 

EINE GRATWANDERUNG IN GHANA

 

GERALD BENESCH

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„Als Sakrament bezeichnet man im Christentum einen Ritus, der als sichtbares Zeichen bzw. Handlung die unsichtbare Wirklichkeit Gottes vergegenwärtigt“ Gott hat für eine überragende Mehrheit der Ghanaer all die Eigenschaften die in der Bibel stehen und die Sonntags stundenlang gepredigt werden: Der Gerechte, der Liebende, hat einen Sohn der demnächst auf die Erde zurückkehren wird.

Auf Schritt und Tritt, am Strassenrand, als Shop- oder Restaurantschild scheint er hier präsent. Wenn er es bloss wirklich wäre – er wird dringend benötigt, es gilt einiges zu tun, viel zu klären!

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Crazy Kwesi

Namen werden in Ghana oft gerne mit dem Wochentag der Geburt gegeben. Gestern hatte ich ein erstaunliches Gespräch mit „Freitag“ auf seiner Veranda auf der wir neugierige Hühner wegscheuchen mussten. Freitag war total übernächtigt und restbetrunken, nachdem er gestern bei einem Begräbnis war, was hier herne mit viel Alkohol endet. Entsprechend war unser Gespräch sehr meandernd aber auch ungewöhnlich, weil er sich klar gegen Religion aussprach, ihn seine Familie aber zum Kirchenbesuch drängt.

Samstag ist der Bruder meiner AirBnb-Vermieterin der hier im Anbau wohnt. Er schaltet den Generator ein wenn wieder mal der Strom ausfällt und ist im Alltag eher ein zum Scherzen aufgelegter Pensionist. Aber eigentlich war er Lektor an der Hochschule für die Studienrichtungen Journalismus und Philosophie. Natürlich bringe ich ihn sofort zum Thema Trump und was er von ihm hält. Er findet ihn toll, weil er sich gegen das Establishment wendet und sich in klaren, mutigen Aussagen gegen Homosexuelle ausspricht.

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Beides natürlich keine Tatsachen, so dumm ist Trump auch wieder nicht. Aber inhaltlich eine Tür aufmachend, die hier in Ghana zu harten Strafen führt für Menschen die gleichgeschlechtlich lieben. Und sofort erfolgt auch Teil zwei seiner Sicht dieses Themenkreises: Es sei schon in der Bibel als Verbot bezeichnet worden und überhaupt, „die Sache mit der Nicht-Fortpflanzung“. Und dass Menschen sich erlauben, sich im falschen Körper zu fühlen – geschlechtlich – und das auch noch laut herumposaunen.

Dann versuche ich ihn zu hinterfragen warum er an den Gott glaubt, den Ausbeuter und Missionare importiert haben. Er geht darauf mehrmals nicht ein und spricht weiterhin von medizinischer – meint aber psychischer – Hilfe für diese Menschen. Die er eigentlich eh okay findet weil sie „generous“, also großzügig sind. Philosophische Analyse und Recherche sind nicht mehr seine Stärke, high-fives wenn ihm ein Scherz gelingt schon eher.

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Der weisse Jesus

An der Hauptstraße hier in Eldina gibt es ein Hinweisschild auf ein Lokal gleich in der Nebengasse – das übliche bunte Plastiktransparent, allerdings mit vergilbten, kaum erkennbaren Fotos von drei Speisen. Ein sauberer Betonweg führt zu einer leichten Anhöhe, darauf ist bereits ein Zeltbaldachin mit einem Langtisch und zehn Sesseln solitär stehend erkennbar, rundherum der übliche Mix aus Holzbaracken und baulichem Chaos.

Egal, es wirkt einladend und hat sogar einen kleinen Gastraum. Zu diesem gehend und fragend was es jetzt am frühen Abend noch zu essen gäbe erkenne an eben diesem Langtisch eine Gruppe von acht Weißen, und zwar wirklich sehr weißen, in ihren Anfangs-Zwanzigern. Die Burschen in College-Freizeitkleidung passend zum Klima, die drei Mädchen in irgendwie altmodischen Kleidern und die Haare mit Spitzendeckchen und Nadel hochgesteckt.

Natürlich denke ich sofort an Mormonen, die gerne weltweit missionieren. Hole mir den Teller mit Ziegenfleisch, zwei Reisknödel mit der guten scharfen Kokosmilch-Sauce und setze mich zu zwei Gahnern in ihren Dreißigern, mit denen ich rasch über dies und das ins Gespräch komme.

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Merkbar gebildete Männer aus Accra in technischen Berufen, die hier Jobs ausführen. Nachdem die beiden gegangen sind, bin ich doch zu neugierig herauszufinden, wer die jungen Menschen am großen Nebentisch sind. Einer der Burschen erklärt mir, dass sie Baptisten aus Pennsylvania sind, irgendwo zwischen Philadelphia und Pittsburgh. Natürlich frage ich sie auch, nachdem sie hier anscheinend missionarisch tätig sind, ob in diesem Land, in dem alle paar 100m eine fette Betonkirche steht, das aber gleichzeitig auch massive Probleme hat, noch mehr Gott nötig wäre.

Alle Sammeltaxis, alle Boote im Hafen, die meisten Geschäfte am Straßenrand, haben eine Referenz zur Größe und Wohltätigkeit Gottes oder einen Bibelvers mit Stellenangabe oder einen Hinweis auf die baldige Rückkehr Jesu aufgemalt oder aufgeklebt. Darauf gehen sie natürlich nicht ein, vielmehr darauf, dass ich hier die reale Existenz oder zumindest die Wohltätigkeit Gottes anzweifle – und natürlich nicht hintanhalten kann, dass das Christentum hier sowieso Importware ist. Wunderbare Götter und Voodooriten waren die Norm.

Jetzt wird es für den zweiten Collegeboy, der vermutlich mit einem Skateboard gut umgehen kann und eines der Mädchen im Omakostüm interessant. Sie setzen sich dazu. 

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Ein entspanntes Gespräch beginnt, indem sie ihre angelernten Argumente vorbringen – in denen zum Glück die Evolution zwar als Tatsache anerkannt wird, aber auch Pascals Wette ihren Platz hat:

Pascal argumentiert, es sei eine bessere „Wette“, an Gott zu glauben, weil der Erwartungswert des Gewinns, der durch Glauben an einen Gott erreicht werden könne, stets größer sei als der Erwartungswert im Fall des Unglaubens. Vorausgesetzt es gibt Gott, so hätte man die Wette dennoch verloren, wenn man sein gesamtes irdisches Leben darauf verwendet einem Gott zu gefallen, an dessen Anforderungen man letztlich doch scheitert, oder dessen Lohn dann enttäuschend ausfällt. Hmm.

Das Gespräch verbleibt weiterhin respektvoll und am Schluss fragt mich die junge Dame welches Buch sie lesen solle, um meine Standpunkte besser zu verstehen. Bücher aus ihrem gedanklichen Umkreis dürfte sie ja anscheinend alle gelesen und verinnerlicht haben. Spontan antworte ich mit etwas, das sie zunächst für einen Buchtitel hält: „Question everything“.

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Mike

Er kam 2019 im Rahmen des vom Staat Ghana propagierten Return – Projektes zurück in das Land aus dem anscheinend seine Vorfahren nach Nordamerika verschifft worden waren. Als Sklaven. Zahlen dazu variieren, man könnte sich eventuell auf 13 Millionen Menschen einigen, die gewaltvoll verschifft wurden, ein Viertel davon wurde im Falle von Krankheit oder Tod auf den Schiffen einfach über Bord geworfen.

Ganz zu schweigen von den wochenlangen Strapazen des in Ketten hierher geschleppt werdens. Eine der Touren die man den meist afroamerikanischen Besuchern anbietet, ist der Besuch eines Flusses, früher einen Tagesmarsch entfernt, in dem man die „Ware Mensch“ aufpäppelte und wusch. Etwas mehr als 3 Millionen landeten jeweils in Südamerika und den karibischen Inseln Diee hatten Kolumbus und seine Nachfolger mittels Ausbeutung und Krankheiten menschenleer von den ursprünglichen Bewohnern gemacht hatten. 500.000 kamen nach Nordamerika. Diese Maximierung der Brutalität gegenüber Menschen ist das was mein AirBnb–Gastgeber in Accra „Ausschwitz, in Form der Festung von Elmina“ genannt hat.

 

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In dieser lokalen Perversion, dem Tiefpunkt an menschlichem Verhalten, gepaart mit der Abwesenheit der von Missionaren frisch importierten importierten christlichen Nächstenliebe. Nichts Neues: Verschleppung von Menschen und Sklaverei waren in den vorher bestehenden Königreichen Westafrikas nicht unüblich, Verträge garantierten den lokalen Kriegsgewinnlern jährliche Lieferungen von großen Mengen an Sklaven. Was sogar aus Männermangel zur teilweise weiblichen Armee in Dahomey führte, das dem Nachbarreich Oyo verpflichtet war, jährlich eine hohe Zahl männlicher Sklaven zu liefern.

Das Geschäftsprinzip der Sklaverei entwickelte dann sogar seltsame Mischformen am Beispiel der Königin Nzinga von Ndongo and Matamba in Angola. Im 17. Jhdt. lieferte sie den zwischendurch verfeindeten Portugiesen 200.000 Sklaven, die sie sich auf Kriegszügen mit Nachbarreichen angeeignet hatte. Nach ihrer Konvertierung zum Christentum benutzte sie Priester um Oppositionelle zu eliminieren, indem sie deren spirituelle Führer in die Sklaverei verkaufte.

Um mit dem Ertrag eine Kirche zu bauen. 2019 wurden also 200 Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die sich als Nachfahren der Sklaven aus Ghana sehen, mit offenen Armen in Empfang genommen und mit der ghanaischen Staatsbürgerschaft versehen. Ein großer Schritt, den auch Mike machte, mit dem ich kurz zwischen Straße und Balkon seines modernen Hauses hier in Elmina am Ortsrand ins Gespräch kommen konnte.

Leider wurde auch bald klar, dass sich Traumata anscheinend über 15 Generationen – die meisten davon in Sklaverei – fortsetzen. Mike trägt eine Wut auf jeden weißen Menschen in sich, auch wenn Österreich nie Sklaverei praktiziert hat.

Der Versuch gemeinsamen Boden zu finden konnte nicht gelingen, ich konnte nur traurig weitergehen – und er anscheinend nur mit geballten Fäusten zurück in sein neues Zuhause.

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Verkehr

Die Polizistin hatte einen weißen Anzug an und trug dazu so etwas wie einen Tropenhelm. Sie stand zwischen der sich anscheinend permanent stauenden dreispurigen Schlange an Autos in der Nähe des Marktes – und hatte eigentlich keine Aufgabe: Es gab nichts zu regeln an Verkehr! Also quatschte sie mit Fahrern oder ließ sich von diesen die Zulassung zeigen, wie ich vermute. Das war ein schönes, ungewöhnliches Bild das ich die Strasse überquerend fotografierte. Kaum drehte ich mich um, hörte ich schon, wie die Dame mir nachrief, dass ich stehen bleiben soll.

Sie holte einen Kollegen in schwarzer Uniform vom Gehsteig und beide forderten mich auf, das Foto zu löschen. Was ich auch tue und glaube damit den Vorgang beendet zu haben. Nein, ich soll „am Handy in den Papierkorb“ gehen und es dort endgültig löschen. Dazu werde ich zur zufälligerweise an der nächsten Kreuzung befindlichen Polizeistation geführt. Sofort tauchen Bilder von Verhören, Erpressung oder anderen Unannehmlichkeiten auf – und so beginnt auch das Gespräch mit den vier dort stehenden Polizisten in schwarzer Uniform.

Ich kann irgendwie verhindern, dass sie mir das Handy abnehmen und versuche mich als naiv aber gutartig und kooperativ darzustellen. Ich finde die Löschfunktion nicht, aber der Chef der Truppe scheint mir entweder zu glauben, dass das Beweismaterial nicht mehr existiert oder erkennt, dass nicht viel von mir zu holen ist.

Nach einer offiziellen Entschuldigung an die Dame in der weißen Tropenuniform, fragt mich der Chef der Truppe beim Weggehen: „Are you looking for a girlfriend?“ Er scheint damit gewisse Connections andeuten zu wollen. Also habe ich für ihn zumindest in eine andere Schublade gepasst: die des einzelreisenden Sex-Touristen.

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Das Kakao-MinisteriumR

Am Rande des Marktes sehe ich eine Versammlung von Verkäuferinnen der umgebenden Straßenecken, dicht gedrängt an einen Metallzaun. Die Musik die von dem Hof dahinter hörbar ist, wirkt magnetisch auf sie, eine kommt mir tanzend entgegen. Der Hof gehört zum straßenseitigen Hauptgebäude der Kakaofarmer und -Vermarkter Ghanas. Beeindruckende alles überragende zehn Stockwerke hoch und mit einem dunkel furnierten Eingangsbereich mittels dessen Air Condition einige Menschen in Business Outfits oder festliche Tracht sich Kühlung verschaffen.

Der Portier ist beschäftigt mit seinem Handy – also nutze ich den Vorteil eines eventuell seriösen weißen Mannes und gehe durch den Raum die Stiegen runter zum Hof. Hier feiert sich das Haus anscheinend selbst, einige Limousinen sind links geparkt und rechts steht eine zehnköpfige Band in bunter ghanischer Bühnenkleidung die sehr funky lokale Hits spielen. Davor einige Damen in feierlichen Outfits, im modernen Businesslook oder lokalen Varianten von Prinzessinnen – mit viel an ihnen Baumelndes das wie Goldblech aussieht.

Ich bin und bleibe der einzige Weisse, was aber nicht groß auffällt, komme ins Gespräch mit einem rundlichen Herrn der sich als Teil der Security vorstellt wenn auch im bunten Hemd. Als ich ihn frage wer hier feiert meint er dies wären nur geladene Gäste.

Als ich ihm ehrlich gestehe, dass ich weder geladen noch kontrolliert bis hierher gekommen bin ist er kurz betreten, meint aber herzlich „Welcome!“ und lädt mich auf eine halbe leere Kokosnussschale ein, die Damen am Rande des Geschehens mit einem wunderbar ingwerscharfen kalten und süßen Hibiskustee füllen. Am Rande des Geschehens wurde ein wackeliger Billardtisch aufgestellt und zwei Männer mit Managergehabe, einer davon eigentlich nur in ein großes buntes Stück Tuch gewickelt spielen eine Partie, Anscheinend kann man auf sie Wetten abschließen.

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Es wird gegrillt oder man kann sich an fünf Stationen lokales Essen in das auch an den Strassenecken übliche Styroporgeschirr geben lassen. Von gekochten Krabben bis zu mir bis jetzt noch nicht bekannten Gemüsen oder simplem Reis. Jemand zapft Bier, die Band mit drei Sängerinnen gibt wieder ordentlich Gas. Nach der Verkostung eines hauseigenen Kakaolikörs und weiteren kurzen Gesprächen, auch mit einem Kakaotester, verlasse ich noch kurz auf ein Tänzchen eingeladen dieses interne „Business-Meeting“. Am Zaun zum Hof stehen immer noch Frauen im Wickelrock, einige ihren Arbeitsplatz am Kopf tragend: eine große Blechschüssel. In Westafrika, vor allem in Ghana und der Elfenbeinküste, sind rund zwei Millionen Kinder am Kakaoanbau beteiligt, Kindersklaverei und Kinderhandel ein großes Problem. Allerdings scheiterten internationale Versuche, die Bedingungen für Kinder zu verbessern an der anhaltenden Armut, dem Fehlen von Schulen, der steigenden weltweiten Kakaonachfrage, dem intensiveren Kakaoanbau – und der anhaltenden Nachfrage nach Kinderarbeit.

Ghana ist nach der benachbarten Elfenbeinküste der zweitgrößte Produzent von Kakao weltweit. Von wegen Kinder: Ich sehe oft die netten Illustrationen von lächelnden Kühen auf Geschäften am Strassenrand, auf Milchprodukte hinweisend – aber nichts davon finde ich in den Geschäften am Strassenrand. Als ich den Kakaomanager, den ich beim Fest kennenlerne, per Whatspp später frage, wo denn die Milch wäre, meint er „Überall, sicher“ – bis ich merke, dass er am Shopeingang von Schnüren baumelnde Abreisssäckchen meint. Alle mit dem Nestlélogo versehen – mit Inhaltsangaben die nicht bloss Milchpulver auflisten.

Auf die naheliegende Frage, wie viel Prozent der Haushalte Kühlschränke haben, schreibt er: „Alle!“ Klar eine Mischung aus Realitätsferne und Nationalstolz. Daniel, der Medizin studierende Verkäufer am Gemischtwarenstand in Elmina meint Tage später es wären je nach sozialer Schicht bei den einfachen Fischverkäuferinnen vielleicht 20% wenn’s hoch kommt, im allgemeinen Durchschnitt Elminas maximal 50%. Und wenn ich ihn schon fragen kann: Ärzte gibt es in dieser 30.000-Einwohner-Stadt ganze vier, Spezialisten sowieso nicht. Für einen Gynäkologen müsse frau mindestens 50 Kilometer fahren.

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Chinesische Piraten

Am Abend, kurz vor der Dämmerung fahren die massiven Holzkanus mit Motorkraft aufs Meer hinaus. Meist acht Mann an Bord, mit den üblichen Sprüchen über die Grossartigkeit Gottes oder Psalmzitaten am Bug. Nicht alle fahren zum Fischen hinaus: Jedes Jahr werden in Ghana etwa 100.000 Tonnen Fische der oberen Meeresschichten illegal gefangen und gehandelt, darunter vor allem Sardinen, Makrelen und Sardellen.

Ein beträchtlicher Teil dieses Fanges ist für den Export bestimmt, auch für den EU-Markt. Obwohl diese Fische für die ghanaische Fischereiindustrie – und damit für die Ernährungssicherheit und die Wirtschaft des Landes – eine wichtige Rolle spielen, sind ihre Bestände in den letzten zwei Jahrzehnten um etwa 80 Prozent gesunken.

Ohne sofortige Maßnahmen muss in den kommenden Jahren mit dem vollständigen Zusammenbruch der Bestände gerechnet werden. Ein wichtiger Faktor für diesen starken Rückgang ist die illegale Fischerei durch industrielle Trawler. Die meisten Schiffe befinden sich im Besitz chinesischer Unternehmen, dank „undurchsichtiger Eigentumsverhältnisse.“

Chinesische Fischereifirmen begannen nach Ghanas Verbot von ausländischen Trawlern, ghanaische Unternehmen als Fassade zu benutzen und fahren hiermitunter ghanaisicher Flagge. In Ghana gibt es rund 200.000 Fischer und etwa 300 Anlandestellen. Meeresfischerei ist die Lebensgrundlage für rund 2,7 Millionen Menschen und trägt zur Ernährungssicherheit Ghanas bei. Beides mit wachsender Unsicherheit.

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Da sie die gefangenen kleinen, oberflächennahen Fische aufgrund ihrer ausschliessenden Bodenfisch-Lizenzen nicht an die Küste zurückbringen können, verkaufen die chinesischen Unternehmen sie auf hoher See, oft gefroren, an lokale Fischer, die sie ja legal fangen und an Land bringen dürfen. Schätzungsweise 100.000 Tonnen Fisch werden jährlich so illegal umverteilt.

Wenn die Fischer am frühen Morgen zurückkommen, werden einige trotzdem mit selbst gefangenem Fisch am Pier anlegen, wo schon die Mittelsmänner warten, um den Fang zum nahen Fischmarkt zu bringen – und ihn an die Frauen dort weiter zu verkaufen. 100l-Bottiche voller silbrig glänzender kleiner Fische stapeln sich am Rand des Hafens, um mit Motorrädern, denen eine Ladefläche angebaut wurde, in die umgebenden Orte und Märkte transportiert zu werden.

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The King is a Queen 

Peggielene Bartels ist einer der Gründe warum ich Ghana so interessant als Reiseziel fand. Sie ist seit mehr als 30 Jahren Sekretärin der Botschaft von Ghana inWashington. Sie ist geschieden, hat keine Kinder und lebt in einer Ein-Zimmer-Wohnung.Bartels hatte nie in Otuam gelebt, sondern war in Cape Coast geboren und aufgewachsen, einer etwa 90 Minuten entfernten Großstadt in Ghana. Bartels‘ Vater war Eisenbahningenieur gewesen, ihre Mutter – die Schwester des verstorbenen Dorfkönigs – Ladenbesitzerin. Zwar hatte sie ihre Otuam-Verwandten von Zeit zu Zeit besucht, auch nachdem sie Ghana 1975 verlassen hatte, sie wurde aber 1997 US-amerikanische Staatsbürgerin. Nichts hatte sie jemals glauben lassen, dass sie auch nur die geringste Chance dazu hätte, Otuams Königin zu werden – allein schon weil Jahrhunderte lang alle Könige Männer waren.

Bartels‘ Onkel war der König von Otuamn, und als er im Alter von 90 Jahren starb, konsultierten die Dorfältesten genealogische Aufzeichnungen und besprachen, welche Verwandten des Königs die für die Herrschaft erforderlichen Eigenschaften aufwiesen – und erstellten eine Liste mit 25 Kandidaten. Bartels war die einzige Frau darauf. Dann schenkte der Oberpriester den Vorfahren Schnaps als Trankopfer aus und stimmte dabei jeden einzelnen Namen an. Als Bartels‘ Name aufgerufen wurde, versank der Schnaps nicht wie sonst im Boden, sondern er dampfte:

Ein klares Zeichen der göttlichen Zustimmung. Ein Verwandter von Bartels rief sie mitten in der Nacht an und teilte ihr die Nachricht mit. “Glückwunsch! Du bist der neue König“: Nana Amuah Afenyi VI. Einige der 7.000 Einwohner von Otuam lebten in Lehmhütten mit Strohdächern dicht am Strand, wo Fischer ihre langen, handgefertigten Kanus aufbewahrten. Ladenbesitzer wohnten an der einzigen gepflasterten Straße der Stadt, einer Fülle von Häusern aus Betonblöcken und kleinen Geschäften. Hier verkauften Menschen Bier, Lebensmittel und Kleidung. Ziegen kletterten auf Steinhaufen und Hühner pickten im Dreck.

Bartels hatte vom verstorbenen König 15 Dorfälteste geerbt, alle in den Siebzigern und Achtzigern. Die meisten von ihnen waren aufgrund jahrzehntelanger Fischerei und Landwirtschaft noch körperlich und geistig fit. Bartels startete zügig in ihre erste Gemeinderatssitzung: „Sie müssen verstehen, dass meine Gedanken die eines Mannes sind“, sagte sie. „Ich bin so stark wie ein Mann. Ich bin so klug wie ein Mann. Ich verlange den absoluten Respekt eines Mannes.

 

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Wenn Ihr das versteht, werden wir gut miteinander auskommen.“ Anderntags bekommt sie irritierende Nachrichten in einer Audienz als frisch gebackener König: „Wir haben auf dich gewartet“, sagte der Bittsteller. „Wir haben jahrelang gewartet. Warum hat diese Stadt Ihrer Meinung nach kein Wasser? Warum gibt es keine Bibliothek? Kein Internet? Warum hat die Grundschule keine Toilette und 250 Kinder benutzen die Büsche? Warum sind unsere Straßen so schlecht?“ Warum gibt es in unserer Klinik nur Krankenschwestern und keinen einzigen Arzt? Wir können nicht vorankommen, weil die Ältesten die Gelder der Stadt gestohlen haben? Das muss sich ändern!“

Die meisten der korrupten Ältesten wurden in den Ruhestand geschickt, Bartels berief neun neue Mitglieder in den Rat: Sechs junge Männer und drei Frauen. Bartels kehrte zu ihrem Job als Sekretärin in ein schrankgroßes Büro im Pressebereich der ghanaischen Botschaft zurück. Dort geht sie ans Telefon, tippt Briefe und sucht in amerikanische Veröffentlichungen, ob Ghana erwähnt wird. Jeden Tag ruft sie ihren Regenten Kwesi Acheampong, einen jungen Cousin, an, um sich in ihrer Abwesenheit informieren zu können. Vier Wochen des Jahres weilt sie persönlich in Otuam.

Nana Amuah Afenyi VI ist stolze Besitzerin einer Ein-Zimmer-Wohnung in den USA und eines reparaturbedürftigen Königspalastes mit acht Schlafzimmern in Ghana. Wenn dieser wieder repräsentabel ist, wird es ein großes Staatsbegräbnis für ihren Onkel, den Vorgänger geben – der schon im Kühlschrank einer Leichenhalle darauf wartet.

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Kempinski

Weil es so schön zentral liegt, die Aircondition und das WiFi effizient sind, bin ich wieder im Kempinski auf Zwischenstopp. Als privilegierter Weißer komme ich natürlich locker rein, erbitte mir einen Gastzugang zum Internet. Und bemerke dass ich nicht der Einzige bin der sich hier einschleicht. Plötzlich sitzt ein Herr mittleren Alters vor mir im lila Plüschsessel und erklärt mir sofort, dass er Künstler ist. Ich erzähle ihm kurz im Smalltalk von meinem Interesse an der lokalen Szene die gerade sehr in die Welt und damit auch nach Österreich schwappt. Er meint mir etwas zeigen zu wollen.

Ich ahne bereits was kommen könnte, aber nicht dass es sich um touristische Klischeebilder von Giraffen und Bongos handelt, in Öl auf mittelformatige Leinwände gemalt und daher eingerollt in etwas, das wie eine Sonnenschirmhülle aussieht, transportierbar. Ich versuche ihm diplomatisch zu erklären, dass ich weder Geld noch Begeisterung aufbringen kann, lokale Künstler oder Basquilat in meinem Handy zeigend sind diese für ihn genauso wenig interessant. Er erzählt mir noch, dass er mit den hier nobel zwischenstoppenden Kapitänen und Stewardessen von Delta oder KLM ganz gut im Geschäft wäre, vor allem Frauen wären gute Kundschaft.

Das freut mich für ihn, unsere Weg trennen sich, er sucht sich eine andere Nische im riesigen Foyer und ich lächle eine Dame an, die ihr Baby wie überall in Ghana üblich, nur nicht im Kempinski, in einem Tuch am Rücken trägt. Bevor wir noch tatsächlich in ein Gespräch kommen, geleitet sie mich zu einer plüschigen Vierersitzgruppe in der gerade ihre kleine Tochter herumzappelt. Sofort beginnt sie mir zu erzählen, dass sie delogiert wurde, dass ihr jemand den Wohnungsschlüssel übergab, und die Miete kassierte, der aber interessanterweise nicht der Besitzer war.

 

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Dieser kam allerdings heute tatsächlich vorbei wegen der Miete und warf sie trotz Einbeziehung der Polizei aus der Wohnung, ihre Sachen dort einsperrend. Tja, und deswegen sei sie jetzt hier weil sie eine Dame kenne, die noch in einem Zoom Meeting ist und ihr helfen werde. Eigentlich relativ logisch, wenn dies nicht das Kempinski wäre und sie vor mir ein Telefongespräch auf Französisch führen würde – sie kommt eigentlich von der benachbarten Elfenbeinküste – mich zum Zuhören drängend, während sie jemandem den Sachverhalt nochmals erzählt.

Dann gibt sie mir noch beiläufig einen Tipp für ein Hotel in der Nähe an der Küste, wo sie die Besitzer kennt. Aha? Und mehrfach betont sie, dass sie nichts von mir will, Ich bleibe in der Verwirrung dass hier der amerikanische Begriff Con-Artist sehr passend ist: Darin kommt Kunst vor, also der Herr vorhin, aber auch und die Dame, die Confidence – also Vertrauen – langsam aber sicher positionieren wolte.

Noch ein bisschen mit ihrer kleinen Tochter und Polstern spielend, wünsche ich ihr alles Gute – und bin immer noch nicht sicher wofür…

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Die Rückkehr

Heute leben etwa 3.000 amerikanische Expatriates in Ghana. Manche betrachten die Ankömmlinge als wohlhabende Außenseiter in einem Land, in dem 30 Prozent der Bevölkerung von weniger als 4 Euro pro Tag leben müssen. Die Regierung hat die Menschen aufgefordert, sie nicht mehr als Ausländer zu bezeichnen. In einer früheren Marketing- kampagne wurden die Amerikaner als „Brüder und Schwestern“ bezeichnet. Nicht jeder fühlt sich willkommen: Ein Gesetz aus der Kolonialzeit stellt Homosexualität immer noch unter Strafe. Die Regel wird selten durchgesetzt, aber LGBT-Aktivisten in Ghana sagen, sie schüre Diskriminierung und Belästigung. Knapp unter 1 Million Touristen/Besucher hat Ghana jährlich, mehr als 100.000 davon Amerikaner die vermutlich an ihrer afrikanischen Herkunft interessiert sind.

Von dieser Million habe ich nur zwei hellhäutige Menschen in Jeansshorts im Zentrum von Accra, auf einem der vielen Märkte gesehen. Der Rest dürfte sich in Hotels und Restaurants versteckt haben oder am Strand irgendwo an der Küste liegen – sofern dieser sauber ist. Oder man ist geschäftlich hier – so wie die Männer im Businessanzug die ich dann hier am Flughafen beim Abflug sehen werde. Die Existenz von Sklaverei, Sklavenhandel und Kriegen in Afrika war vor dem Erscheinen der Europäer die Voraussetzung für den atlantischen Sklavenhandel. Keine der europäischen Mächte hätte ohne afrikanische Eliten Zugang zu Sklaven aus dem Inneren Afrikas gehabt oder Sklavenhandel betreiben können.

 

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Bis heute wirkt in Afrika das Trauma der 400 Jahre dauernden, millionenfachen Deportation nach. Sklaverei war ja bereits im alten Rom üblich, mitten durch die Sahara wurde im Lauf der Jahrhunderte eine ähnlich hohe Zahl an Afrikanern in die Sklaverei arabischer Länder verschleppt, wie auf der transatlantischen Route nach Amerika und in die Karibik. Durch die Kolonialzeit wurden zuvor vorhandene gesellschaftliche Strukturen zerstört und oftmals willkürlich Grenzen gezogen, die dann das Entstehen von korrupten Regimen und Diktaturen erleichtert haben.

Elmina beherbergte wie andere westafrikanische Sklavenfestungen in den oberen Etagen luxuriöse Suiten für die Europäer. Die Sklavenverliese darunter waren eng und dreckig, in jeder Zelle befanden sich oft bis zu 200 Menschen auf einmal, ohne dass genügend Platz zum Liegen vorhanden war. Der Boden des Kerkers ist aufgrund jahrhundertelanger Einwirkung von Schmutz und menschlichen Exkrementen heute mehrere Zentimeter höher als bei seiner Erbauung. Ausbrüche von Malaria und Gelbfieber waren häufig. Treppen führten direkt von den Gemächern des Gouverneurs zu den darunter liegenden Frauenverliesen, was es ihm leicht machte, unter den Mädchen persönliche und unfreiwillige Konkubinen auszuwählen.

An der Meeresseite der Burg befand sich die „Tür ohne Wiederkehr“, das berüchtigte Portal, durch das Sklaven die Schiffe bestiegen, die sie auf die tückische Reise über den Atlantik mitnahmen, die „Mittlere Handelspassage“ genannt.

Die anderen beiden waren Transport und Verkauf von Gütern aus den Kolonien nach Europa – und das Investieren in Sklavenankäufe in Afrika. Bis zum 18. Jahrhundert passierten hier in vielen Jahren bis zu 30.000 Sklaven auf ihrem Weg nach Nord- und Südamerika Elminas „Tür ohne Wiederkehr.“

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Sterben ist Prestigesache!

 

Vorgestern bei einer öffentlichen Totenwache gwesen, bei der die Dame im Himmelbett aufgebahrt war, gestern bei einer Trauerfeier – die eine große Party war. Es gibt hier die Differenzierung zwischen einem „Glorious Exit“, also im reifen Alter sterben, und dem „Painful Exit“, also zu früh.

Der Tod von Kindern und Jugendlichen wird nicht öffentlich zelebriert, weil der ja extra unfair ist… Das Krankenhaus ist für viele zum bevorzugten Sterbeort geworden, und die Familien bringen die Sterbenden schnellstmöglich ins Krankenhaus, um zu vermeiden, dass sie zu Hause sterben. Je näher jemand an einem Krankenhaus ist, desto näher ist er an der Leichenhalle des Krankenhauses.

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Es ist nicht ungewöhnlich, dass ghanaische Leichen nach ihrem Tod bis zu 40 Tage im Leichenschauhaus des Krankenhauses bleiben. Je länger eine Leiche dort verbleibt, desto mehr Prestige wird mit der Beerdigung verbunden. Längere Aufenthalte im Kühlschrank sind so sehr an der Tagesordnung, dass die Regierung Regeln erlassen musste, die die Zeitspanne zwischen Tod und Beerdigung begrenzen. Diese neue Bestattungskultur hat viel mit der zu organisierenden großen und teuren Beerdigung zu tun, den sozialen und wirtschaftlichen Status der Toten und der Lebenden widerspiegelnd.

Die Leute kennen die hohen Preise von Leichenbestattungen und können abschätzen, wie viel Geld die Familie dafür ausgegeben hat. Menschen versuchen neuerdings bestenfalls, in privaten Krankenhäusern zu sterben, weil dies mehr Geld kostet.Beim Plakat für einen Priester habe ich auch schon mal ein Jahr Abstand zwischen Tod und Beerdigung gesehen. Auch soll Formaldehyd ein Verkaufsschlager in Ghana sein. Und hier der Bezug zur lebendigen Realität: Wird ein Priester krank wird die Gemeinde sämtliche finanzielle Unterstützung zur Gesundung aufbringen.

Ein Bettler auf der Straße hätte keine Chance auf Almosen würde er beim selben Priester anklopfen. Nächstenliebe braucht wohl etwas mehr Motivation.

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Gegensätze

Ich kann damit einfach schwer umgehen, mit dem riesigen Unterschied zwischen Arm und Reich in diesem Land – und anscheinend allgemein hier an der afrikanischen Westküste. Als ich das schick werdende Viertel Ozu hier rund um das AirBnb eines südafrikanischen Journalisten zu Fuß erkunde, entdecke ich plötzlich einen ultraschicken Shared Workspace namens „buro“ und gleich daneben einen Coffee Shop, mit der wortwörtlichen Coolness von 15°Celsius, der Fläche eines halben Fußballfeldes und acht Bediensteten für vier Besucher.

Drei davon sind das etwas älteres Ehepaar und ihre Tochter, die auch bei mir im Haus wohnen und hier ihren gepflegten, mit aktuellsten Armaturen gerösteten Kaffee trinken. Als ich sie anspreche und erwähne, dass ich in den zwei Wochen hier exakt nur ein Touristenpärchen auf der Straße gesehen habe, meinen sie: „Ach das sind schon viele, bei unserem geführten Rundgang hier durch Jamestown, der Besichtigung des Sklavenforts, da waren schon viele Weisse“. Und dann sitzen Sie hier bei einem Macchiato und sehen aus wie ein reifes Paar, bei dem er knielange Shorts – und tatsächlich das Klischee des Deutschen erfüllend Sandalen mit Socken trägt. Die Tochter, Mitte 20, die Unauffälligkeit in Person.

 

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Und dann die Überraschung: Sie erzählen mir, dass sie hier in Westafrika vor 30 Jahren in den Nachbarländern, vor allem Burkina Faso, Entwicklungsarbeit geleistet haben, und er dann später wirtschaftlich beruflich hier tätig war. Um danach mit einer goldenen Kreditkarte zu bezahlen.

Im HDI-Bericht 2021–2022 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) belegt das Nachbarland Burkina Faso den 184. Platz auf einer Liste von 191 Ländern. 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Mindestens 60.000 Kinder arbeiten auf Baumwollplantagen und in Goldminen, wo sie Pestiziden, Staub und giftigen Dämpfen ausgesetzt sind.

Trotz Aufklärungskampagnen sind weibliche Genitalverstümmelung und Kinderheirat ebenfalls große Probleme. Sind diese Länder absolut nicht flexibel oder lernfähig, warum sind die Entwicklungsangebote so ineffizient? WTF!

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Agbogbloshie

 

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Ein perfektes Uhrwerk, in dem es nicht um Zeit geht sondern um Effizienz, Tausende Rädchen, die ein Ganzes erfüllen. Tausende Menschen sind die Rädchen, die nur Bildschirme zerlegen, andere nur Motorblöcke und dritte die aus Wasserkochern die Heizspirale heraushämmern. Das ist der auf dem Land befindliche Teil der Maschinerie und erstreckt sich über mehrere Fußballfelder.

Nicht zu übersehen ist der Teil, der im Wasser liegt: Vier Meter große Kugeln aus transparenten Wasserflaschen, in Netzen zusammengezurrt treiben sie auf dem Wasser in Ufernähe um von Trägern hinauf zur letzten Sammelstelle – den rieseigen Hallen – auf dem Kopf getragen zu werden. Ein Stück weiter unten, an dem was man längst nicht mehr einen Fluss nennen kann, ist durch eine Staustufe ein Meer an Styropor-Essens-schüsseln, weiteren Wasserflaschen und Plastikteilen die bis zu einzelnen Flip Flops reichen, aufgestaut. Nahezu idyllisch waten darin bauchtief einzelne Sammler, weiße Reiher die Essbares suchen, immer wieder aufscheuchend.

 

Mehr als 40.000 Menschen leben in den dazwischen befindlichen improvisierten Holzhütten, viele davon Einwanderer aus umgebenden, noch ärmeren Ländern, das Erfüllen von Arbeitsaufträgen als LebensInhalt. Man benutzt dafür einfach nur Hammer und Meißel. So zerlegt sich ein Kühlschrank, dessen Motor. Für’s Feinere gibt’s dann Spezialisten, die aus alten Handys Akkus und Platinen entfernen. Alle haben sie gemein, einen Arbeitsplatz zu haben, der hochtoxisch ist, geruchsmäßig eine kaum mehr identifizierbare Mischung.

Unterbezahlt, auch angsichts der Gefahren, ein Umfeld, in dem die herumlaufenden Hühner Eier legen, welche das 2800fache des in Europa erlaubten Maßes an Dioxin enthalten.

Auch erstaunlich, in dieser Vorhölle sehe ich nirgends Hinweise auf den lieben Gott oder Zitate aus Psalmen, wie sonst üblich an Häusern und Geschäften…

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Kunst und Realität

Einer der Bildsplitter die ich von Ghana in den letzten Jahren abgespeichert hatte ließ mich das Bild einer ordentlichen, fast westlichen, europäischen Stadt, nur etwas südlicher abrufen. Das waren sicher Fotos und Hinweise auf Osu, der Stadtteil in dem ich in den letzten Tagen in Accra auch wohne.

Hier ist anscheinend die goldene Mitte zwischen der knallharten und ärmlichen Realität im Großteil der Stadt und den Schwerreichen, die ich so en passant mitbekomme. Das heißt: Tatsächlich saubere Straßen, fettere Autos, ein paar Kolonialvillen oder eben dieser coole Sixties-Betonbau mit meinem Airbnb.

Hier entwickelt sich ein kleines Zentrum an Galerien, Restaurants und Bars, die wir als normal bis cool empfinden würden, der aber weit jenseits der Erreichbarkeit für die Frauen liegt, die Trockenfisch an den Märkten verkaufen. Hier hat sich auch der ghanaische Künstler Amoaco Boalfo einen spacigen Klotz in Strandnähe bauen lassen, der als Galerie, Büro und Ort für Artists in Residence dient. Er wird im Herbst 2024 ganz groß in Wien im Belvedere ausstellen, einzelne Bilder sind schon um Millionenbeträge in Dollar verkauft worden.

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Er war für mich eine der Gründe, warum ich Accra so anziehend fand. Seine mit bloßen Fingern gemalten Portraits von Schwarzafrikanern begeistern mich schon länger. Gleich ums Eck ist dann in einem ehemaligen Fabrik eine Ausstellungs- und Atelierkonglomerat untergebracht mit absolut faszinierenden und sicherlich bereits international erfolgreichen KünstlerInnen, meist MalerInnen.

Hier also auch mittels Kunst eine beruhigende Oase, die all den Wahnsinn dieser Stadt halbwegs abfedert – wenn man dazu Zugang hat. „Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen“ – ein Graffitti gleich ums Eck vom Art Space, in dem die Kuratorin mir erzählte, dass sie als Privilegierte bei der Geburtstagsfeier einer Tochter des früheren Präsidenten gewesen ist, die mit massiven Ausgaben protzte – unter anderem wurden Gäste eingeflogen. Als ich meinte: „Hoffentlich bezahlt aus seiner Privat-Schatulle“ sah sie mich schulterzuckend an: „Of course not!“

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Der textile Wahnsinn

„Von der gesamten Kleidung, die wir in Österreich sammeln, gehen knapp 25 Prozent nach Afrika. Und zwar immer nach dem konkreten Bedarf vor Ort zusammengestellt“. Sagt der Geschäftsführer von Humana Österreich. Jede Woche werden etwa 15 Millionen alte Kleidungsstücke nach Ghana verschifft, wobei es sich dabei größtenteils um unerwünschte Abfälle aus den Kleiderschränken nordamerikanischer, chinesischer und europäischer Verbraucher handelt. Die Kleidung wird in Ballen verkauft, ein Großteil davon an Einzelhändler auf dem Kantamanto-Markt in Accra, einem der größten Second-Hand-Kleidungsmärkte der Welt. Schätzungsweise 40 Prozent sind von so schlechter Qualität, dass sie bei der Ankunft als wertlos gelten und auf der Mülldeponie landen. Der Transport der 55kg schweren Ballen auf dem wimmelnden Basar mit seinen engen Gängen und den Tausenden von Kunden ist mit mechanischen Mitteln unmöglich. Die Aufgabe fällt also den Reihen der Träger in Accra zu.

Der Handel mit Second-Hand-Kleidung ist in Accra, wie auch auf der ganzen Welt, stetig gewachsen. Jedes Jahr werden bis zu 4 Millionen Tonnen gebrauchter Textilien im Wert von schätzungsweise 4,6 Milliarden US-Dollar um die ganze Welt verschifft. In Accra, wo jede Woche also etwa 60 Container mit gebrauchter Kleidung ankommen, kann die Branche sehr profitabel sein. Aber es birgt ein unge-wöhnliches Geschäftsrisiko. Importeure können bis zu 95.000 US-Dollar für einen Container voller Kleidung ausgeben und haben keine Ahnung, was sie kaufen. Erst wenn ein Ballen geöffnet ist, erkennt man die Qualität der Kleidung. Wenn es in gutem Zustand ist, kann der Gewinn schnell bis zu 14.000 US-Dollar betragen.

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Aber wenn die Kleidung zerrissen oder fleckig ist oder schon lange aus der Mode gekommen ist, hätte der Importeur genauso gut das Geld verbrennen können. Vieles läßt sich durch Heerscharen an SchneiderInnen, Büglern und geduldigen Schuhputzern retten. Eine wachsende Zahl minderwertiger Kleidung, die auf dem Kantamanto-Markt ankommt, ist eine der Hauptursachen für die Abfallkrise in Ghana. Ein weiterer Grund ist die schiere Menge an Kleidung, die weltweit hergestellt wird. Seit 2000 hat sich die weltweite Bekleidungsproduktion verdoppelt. Wir kaufen heute 60% mehr Kleidung als vor 15 Jahren. Aber wir behalten sie nur halb so lange. Eine große Umfrage in Großbritannien vor sechs Jahren ergab, dass jede dritte junge Frau Kleidungsstücke als „alt“ betrachtete, wenn sie nur zweimal getragen wurden.

H&M meldete kürzlich einen unverkauften weltweiten Lagerbestand im Wert von mehr als 5 Milliarden US-Dollar. Aber ein Drittel dieser Kleidung kann nicht in örtlichen Ramschläden verkauft werden. Stattdessen werden sie ins Ausland verschifft. Wohltätigkeitsorganisationen verkaufen sie für rund 50c pro Kilo an australische Exporteure. Anschließend werden sie nach Malaysia, Pakistan und in die Vereinigten Arabischen Emirate exportiert, wo sie je nach Marktsegment, beispielsweise „Herrenhemden“ oder „Damenjacken“, in Ballen sortiert werden.

Diese Ballen werden dann an Importeure in Osteuropa, im Pazifikraum und in Afrika verkauft. Und bilden hier die Lebensgrundlage vieler. Es gibt NGO’s die Upcycling einführen wollen, coole Teppiche aus Stoffresten zum Beispiel. Für den Export, zurück zu den Verursachern…

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Die Schreine

Das Wort „posuban“ ist eine Kombination aus der verfälschten Form des englischen Wortes „post“, also „posu“, und dem Wort „ban“, das „Festung“ bedeutet. Posuban-Schreine sind ein fester Bestandteil der Fante-Region an der Zentralküste Ghanas.

Jede Stadt, fast unabhängig von ihrer Größe, wird einige solcher Schreine besitzen, die oft mit kryptischen Symbolen oder Statuen geschmückt sind. In jeder Fante-Stadt in Ghana wie Eldina gibt es eine Reihe von Bürgergruppen, die einst neben den Kolonialmächten enormen Einfluss auf lokale Angelegenheiten hatten – und als erbitterte Milizen agierten.

Heute verfügen sie nicht mehr über die gleiche politische Macht, aber die Vereinigungen sind weiterhin im kulturellen Leben ihrer Städte aktiv. Größere Fanteorte können über ein Dutzend davon haben, nummeriert in der Reihenfolge ihrer Gründung. In Elmina führt ein kurzer Spaziergang durch die Altstadt an vier Posuban-Schreinen vorbei, die sofort an den bizarren Statuen erkennbar sind, die sie beherbergen.

Diese Schreine dienen hauptsächlich als Lagerhäuser für die verschiedenen Unternehmen. Früher waren sie Munitionslager, danach enthielten sie jedoch eher Kostüme und feierliche Utensilien. Heute sind drei der vier hier dem Verfall preisgegeben, in erbärmlichem Zustand.

Der Mann vom Obststand, neben dem bunten, noch Ansehnlichen verrät mir, dass „a German artist“ ihn in Abständen restauriert.

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Hohe Zeit

Nachdem ich tagsüber hier im Viertel drei weitere Trauerfeierlichkeiten gesehen habe, endlich mal eine Hochzeit! Ich sitze im Dunkeln am Rande des Hofes, als ich den DJ mehrmals „Whiteman, Whiteman“ über das fette Soundsystemrufen höre: Die übliche in Anrede der letzten Wochen, auch bin ich so ziemlich der einzige Weiße, den ich in den Straßen sah seit der Ankunft.

Tja, da muss ich wohl ein Tänzchen wagen mit den Ladies vom Brauttisch – der BräutIgam sitzt mit seinen Männern ein paar Tische weiter. Und, das Abendessen nachher, vom Marktstand, Jolloff-Reis mit Hühnerkeule, lasse ich mir dort in Palmblätter wickeln – und kaum schaue ich weg ist es wieder in zwei Plastiksackerl gesteckt…

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70:1

Der junge Mann, dem das Leben den Job eines karrenschiebenden Kokosnussverkäufers zugespielt hat – was er an 7 von 7 Tagen tut – ist sich der Realität absolut bewußt.

Er sagt, dass 70% der Einwohner Accras sprichwörtlich versuchen zu überleben, von einem Tag zum nächsten. Dann gibt es die goldene Mitte, die mit Beamtenjobs oder ähnlich schlecht Bezahltem zumindest gesichert durchkommt.

Und 1% das so reich ist, dass einem schwindelt. Leicht zu finden sind sie in Osu, in den exclusiven Beachclubs „Sandbox“ oder „Rehab“ – gemischt mit Diplomatenkids, russischen Gattinnen, internationalen Geschäftspartnern.

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Es ist nicht die Gabe eines Sakramentes, die ein Leben entscheidet. Es ist die Gnade von Ort und Zeit der Geburt. Ada hat nicht das Glück gehabt, in Europa oder Amerika auf diese Welt zu kommen.

Wie viele aus den Nachbarstaaten wie Sierra Leone hält sie sich hier mit Gelegenheitsjobs über Wasser. In ihrem Fall Zöpfe und Perücken flechten und Kellnern für Groschenbeträge. Oder, mich am Markt ansprechend, hoffend auf eine weitere Geldquelle.

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